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资料:王尔德 Oscar Wilde:De Profundis (德文版)

2014年2月7日

出处:http://www.besuche-oscar-wilde.de/werke/deutsch/briefe/de_profundis.htm

Epistola: in carcere et vinculis

An Lord Alfred Douglas1

Januar-März 1897
H. M. Prison, Reading

Lieber Bosie, nach langem, vergeblichem Warten habe ich mich nun entschlossen, Dir zu schreiben, nicht nur in Deinem, sondern auch in meinem Interesse, denn mich schmerzt der Gedanke, dass ich in zwei langen Jahren der Gefangenschaft keine einzige Zeile von Dir erhielt und dass Deine spärlichen Botschaften und die wenigen Berichte über Dich mir nur Kummer bereitet haben.

Unsere verhängnisvolle und unselige Freundschaft endete für mich in Zusammenbruch und öffentlicher Schande, und doch lässt mich die Erinnerung an unsere einstige Zuneigung nicht los, stimmt der Gedanke, dass Ekel, Bitterkeit und Verachtung in meinem Herzen für immer den Platz einnehmen sollten, den einst die Liebe innehatte, mich traurig: und sicher wird auch Dir Dein Herz sagen, dass Du besser daran tätest, mir in die Einsamkeit des Kerkerdaseins zu schreiben, als ohne meine Erlaubnis meine Briefe zu veröffentlichen oder mir, ohne zu fragen, Gedichte zu widmen, wenn auch die Welt dann nicht erfahren wird, welche Worte des Leids oder der Leidenschaft, der Reue oder der Gleichgültigkeit Du für Deine Antwort oder Deinen Anruf wähltest.

Zweifellos wird manches in diesem Brief, der von Deinem Leben und meinem sprechen muss, von Vergangenheit und Zukunft, von Süßem, das sich in Bitterkeit wandelte, und von Bitterem, das sich vielleicht einmal in Freude verkehrt, Deine Eitelkeit im Innersten treffen. Wenn Du das spürst, so lies diesen Brief immer wieder, bis er Deine Eitelkeit vernichtet hat. Wenn Du auf etwas stößt, das Dir als ungerechte Anklage erscheint, so bedenke, man sollte dankbar dafür sein, dass es Fehler gibt, deren man zu Unrecht angeklagt werden kann. Wenn Du zu einer einzigen Stelle kommen solltest, die Dir Tränen entlockt, dann weine, so wie wir im Kerker weinen, wo der Tag wie die Nacht für Tränen geschaffen sind. Sie sind Deine einzige Rettung. Wenn Du Deiner Mutter Dein Herz ausschüttest, damit sie Dir recht gibt und Deinem Dünkel und Deiner Arroganz das Wort redet wie damals, als ich in meinem Brief an Robbie meine Verachtung für Dich kundtat, so bist Du verloren. Wenn Du eine heuchlerische Ausrede für Dich findest, dann wirst Du bald auch hundert finden und genau das sein, was Du vorher warst. Sagst Du noch immer wie in Deiner Antwort an Robbie, dass ich Dir »unwürdige Motive unterstellte«? Ach, in Deinem Leben gab es keine Motive. Da gab es nur Gelüste. Ein Motiv ist eine geistige Zielsetzung. dass Du »sehr jung«gewesen seist, als unsere Freundschaft begann? Dein Fehler war nicht, dass Du so wenig vom Leben wusstest, sondern dass Du so viel wusstest. Die Morgenfrische der Kindheit mit ihrem zarten Hauch, ihrem klaren, reinen Licht, ihrer unschuldigen, erwartungsvollen Freude hattest Du weit hinter Dir gelassen. Leichten, behenden Fußes warst Du von der Romantik zum Realismus geeilt. Schon faszinierte Dich die Gosse und ihre Welt. Daraus erwuchs die Not, in der Du meine Hilfe suchtest, und ich, so unklug gemessen an der Weisheit dieser Welt, gewährte sie Dir aus Mitleid und Güte. Du musst diesen Brief zu Ende lesen, auch wenn jedes Wort zum Glüheisen oder Skalpell wird, unter dem das wunde Fleisch brennt oder blutet. Bedenke, ein Tor sein in den Augen der Götter und ein Tor sein in den Augen der Menschen ist nicht das gleiche. Einem Menschen, der nichts weiß vom stürmischen Formwandel in der Kunst und vom stetigen Fortschritt des Denkens, nichts weiß vom Prunk des lateinischen Verses noch von toskanischer Bildkunst und der Lyrik der Ellsabethaner, kann dennoch süßeste Weisheit innewohnen. Der wahre Tor, den Hohn und Hass der Götter trifft, ist der Mensch, der sich selbst nicht kennt. Allzu lang war ich ein solcher Narr. Schon allzu lange bist Du es.

Lass es genug sein. Fürchte Dich nicht. Das schlimmste Laster ist die Seichtheit. Alles ist gut, was man geistig erfasst hat. Bedenke auch, dass alles, was Dich beim Lesen mit Elend erfüllt, mir beim Schreiben noch größeres Elend gebracht hat. Die unsichtbaren Mächte waren sehr gut zu Dir. Sie haben Dich die seltsamen und tragischen Erscheinungen des Lebens so sehen lassen, wie man Schatten in einer Kristallkugel sieht. Das Haupt der Medusa, bei dessen Anblick lebende Menschen zu Stein erstarren, durftest Du gefahrlos im Spiegel betrachten. Du wandelst unter Blumen. Mir ist die schöne Welt der Farbe und der Bewegung genommen.

Als erstes möchte ich Dir sagen, dass ich bittere Anklage gegen mich erhebe. Ich sitze hier in meiner dunklen Zelle, in Sträflingskleidung, ein entehrter, zugrunde gerichteter Mann, und klage mich an. In den qualvollen, angstfiebernden Nächten, den langen, eintönigen Tagen der Pein klage ich mich an. Ich klage mich an, weil ich es zuließ, dass eine ungeistige Freundschaft, eine Freundschaft, die nicht die Erschaffung und Betrachtung des Schönen zum obersten Ziel hatte, mein Leben völlig beherrschte. Von allem Anfang an klaffte zwischen uns eine zu breite Kluft. Du warst schon in der Schule träge gewesen und an der Universität mehr als träge. Du machtest Dir nicht klar, dass ein Künstler, und zumal ein Künstler wie ich es bin2, das heißt einer, bei dem die Qualität seines Werkes von der Vervollkommnung seiner Persönlichkeit abhängt, für die Entfaltung seiner Kunst den Umgang mit Ideen braucht und eine geistige Atmosphäre und Ruhe, Frieden und Einsamkeit. Du hast meine Arbeit bewundert, wenn sie vollendet war: hast die glänzenden Erfolge meiner Premieren genossen und die glänzenden Soupers, die ihnen folgten: Du warst stolz, versteht sich, der beste Freund eines so prominenten Künstlers zu sein: aber die unerlässlichen Voraussetzungen für die Schaffung eines Kunstwerks konntest Du nicht begreifen. Ich drechsle keine rhetorischen Phrasen, sondern bleibe auf dem Boden der durch Tatsachen erhärteten Wahrheit, wenn ich Dich daran erinnere, dass ich während der ganzen Zeit, die wir zusammen waren, keine einzige Zeile geschrieben habe. Ob in Torquay, Goring, London, Florenz oder anderswo, immer war mein Leben unfruchtbar, unschöpferisch, solange Du bei mir warst. Und mit nur wenigen Unterbrechungen warst Du leider immer bei mir.

Um nur ein Beispiel von vielen herauszugreifen: ich erinnere mich, dass ich im September ‘93 ein paar Zimmer mietete, nur um ungestört arbeiten zu können, denn ich hatte meinen Vertrag mit John Hare, für den ich ein Stück schreiben sollte, gebrochen, und er drängte mich. In der ersten Woche ließest Du mich in Ruhe. Wir hatten uns kein Wunder – über den künstlerischen Wert Deiner Salome-Übersetzung gestritten, und Du beschränktest Dich deshalb darauf, mir törichte Briefe zu schicken. In dieser Woche schrieb ich den ganzen ersten Akt von An Ideal Husband fertig, bis ins Detail so, wie er schließlich aufgeführt wurde. In der zweiten Woche kamst Du wieder, und mit meiner Arbeit war es praktisch vorbei. Jeden Vormittag fuhr ich um halb zwölf zum St. James’s Place, um dort denken und schreiben zu können, ohne Angst vor Störungen, wie sie selbst ein so stiller und friedlicher Haushalt wie der meine mit sich bringt. Doch der Versuch scheiterte. Um zwölf Uhr kamst Du vorgefahren und bliebst Zigaretten rauchend und schwatzend bis halb zwei, dann musste ich Dich zum Lunch ins Café Royal oder ins Berkeley führen. Lunch plus liqueurs dauerten meist bis halb vier. Auf eine Stunde zogst Du Dich in den Club zurück. Zur Teezeit warst Du wieder da und bliebst, bis es Zeit war, sich fürs Abendessen umzuziehen. Dann warst Du mein Gast zum Dinner, entweder im Savoy oder in der Tite Street. Meist trennten wir uns nach Mitternacht, da ein Souper bei Willis den entzückenden Tag würdig beschließen musste. So lebte ich diese drei Monate hindurch. Tag für Tag, bis auf die vier Tage, die Du verreist warst. Natürlich musste ich nach Calais hinüber und Dich abholen. Für einen Menschen meiner Art und meines Temperaments war dieses Leben grotesk und tragisch zugleich.

Du musst Dir das doch inzwischen klargemacht haben? Du musst doch jetzt einsehen, dass Dein Unvermögen, allein zu sein, Dein Glaube, ständig und völlig die Zeit und die Aufmerksamkeit anderer beanspruchen zu dürfen, Dein völliger Mangel an geistiger Konzentrationsfähigkeit, der unglückliche Zufall – ich möchte gerne an diese Auslegung glauben -, dass Du im Umgang mit geistigen Dingen noch immer nicht den »Oxford-Stil« entwickelt hattest, ich meine, dass Du nie elegant mit Ideen spielen, sondern nur mit radikalen Ansichten auftrumpfen konntest – dass dies alles, zusammen mit der Tatsache, dass Deine Wünsche und Interessen dem Leben galten, nicht der Kunst, die Entwicklung Deiner Persönlichkeit genauso hemmte wie meine Arbeit als Künstler. Wenn ich unsere Freundschaft mit der Freundschaft vergleiche, die mich mit noch jüngeren Männern wie John Gray und Pierre Louÿs verband, so schäme ich mich. Mein wahres Leben, mein Leben im höheren Sinn, verbrachte ich mit ihnen und ihresgleichen.

Ich spreche jetzt nicht von den verheerenden Folgen meiner Freundschaft mit Dir. Ich spreche nur von dem, was sie war, solange sie bestand. Für mich bedeutete sie geistige Erniedrigung. Der Keim zu künstlerischem Temperament war in Dir angelegt. Aber ich bin Dir entweder zu spät oder zu früh begegnet, welche von diesen beiden Möglichkeiten zutrifft, weiß ich nicht. Wenn Du weg warst, ging alles gut. Als ich Anfang Dezember jenes Jahres, auf das ich vorhin anspielte, Deine Mutter dazu bewegen konnte, Dich ins Ausland zu schicken, ordnete ich zugleich das zerrissene, wirre Gespinst meiner schöpferischen Phantasie, bekam mein Leben wieder fest in die Hand und beendete nicht nur die drei letzten Akte von An Ideal Husband, sondern ersann auch zwei in ihrem Charakter völlig verschiedene Stücke, die Florentine Tragedy und La Sainte Courtisane, und hatte sie fast fertig, als Du plötzlich ungebeten, unwillkommen und unter Umständen, die meinen Seelenfrieden gefährdeten, wieder auftauchtest. Die Arbeit an den beiden Stücken konnte ich nie wieder aufnehmen. Die Stimmung, aus der sie entstanden waren, konnte ich nicht wiederfinden. jetzt, nachdem Du selbst einen Gedichtband veröffentlicht hast, wirst Du die Wahrheit dessen erkennen, was ich hier schreibe. Doch ob Du sie erkennst oder nicht, sie bleibt als hässliche Wahrheit au f dem Grunde unserer Freundschaft. Solange Du bei mir warst, machtest Du meine Kunst zuschanden, und dass ich Dir erlaubte, Dich ständig zwischen mich und meine Kunst zu drängen, dafür muss ich Schuld und Schande voll auf mich nehmen. Du konntest es nicht wissen, Du konntest es nicht verstehen, Du konntest es nicht beurteilen. Ich hatte kein Recht, es überhaupt von Dir zu erwarten. Du interessiertest Dich ausschließlich für Deinen Magen und Deine Marotten. Dir stand der Sinn nur nach Vergnügungen, nach gängigen oder weniger gängigen Lustbarkeiten. Scheinbar oder wirklich brauchte Dein Temperament damals weiter nichts. Ich hätte Dir verbieten sollen, mein Haus und meine Räume ohne ausdrückliche Erlaubnis zu betreten. Ich mache mir die schwersten Vorwürfe wegen meiner Schwäche. Denn es war reine Schwäche. Eine halbe Stunde mit der Kunst gab mir stets mehr als jede noch so lange Zeit mit Dir. In keinem Abschnitt meines Lebens war jemals irgend etwas von annähernd solcher Bedeutung für mich wie die Kunst. Doch bei einem Künstler ist Schwäche ein Verbrechen, wenn diese Schwäche die schöpferische Phantasie lähmt.

Und ich klage mich an, weil ich mich von Dir in den völligen und schimpflichen finanziellen Ruin treiben ließ. Ich denke an jenen Morgen in den ersten Oktobertagen des Jahres ‘92, als ich mit Deiner Mutter in den herbstlichen Wäldern von Bracknell saß. Damals kannte ich Deine wahre Natur noch kaum. Ich war übers Wochenende bei Dir in Oxford gewesen. Du warst zehn Tage lang bei mir zum Golfspielen in Cromer gewesen. Das Gespräch kam auf Dich, und Deine Mutter klärte mich über Deinen Charakter auf. Sie erzählte mir von Deinen beiden Hauptfehlern, Deiner Eitelkeit und Deiner, wie sie es ausdrückte, »Beziehungslosigkeit zum Geld«. Ich erinnere mich genau, wie ich lachte. Ich ahnte nicht, dass die erste Eigenschaft mich ins Gefängnis und die zweite in den Bankrott stürzen sollte. Eitelkeit hielt ich für eine Art eleganter Knopflochblume für junge Leute; und was Leichtfertigkeit in Gelddingen anlangt – denn ich glaubte, sie meine nur Leichtfertigkeit -, so lagen die Tugenden des Einteilens und Sparens auch nicht in meiner Natur oder in meiner Art. Doch ehe unsere Freundschaft einen Monat älter geworden war, dämmerte mir, was Deine Mutter meinte. Dein Verlangen nach einem Leben in bedenkenloser Verschwendung: Deine ständigen Geldforderungen; das Ansinnen, dass ich für alle Deine Vergnügungen aufkommen müsse, ob ich dabei war oder nicht, brachten mich bald in ernste Geldverlegenheit, und je nachhaltiger Du mein Leben mit Beschlag belegtest, um so langweiliger und uninteressanter wurden diese Extravaganzen für mich, da das Geld kaum für andere Freuden als die des Essens, Trinkens und dergleichen ausgegeben wurde. Von Zeit zu Zeit macht es Vergnügen, die Tafel rot zu decken, mit Wein und Rosen. Du jedoch kanntest weder Sitte noch Maß. Du fordertest ohne Anmut und nahmst ohne Dank. Bald glaubtest Du, eine Art Anspruch auf ein Leben zu meinen Lasten und in verschwenderischem Luxus zu haben, der Dir neu war und daher Deine Begierde immer mehr reizte; und wenn Du in einem Spielcasino in Algier Geld verlorst, dann depeschiertest Du mir einfach am nächsten Morgen nach London, ich solle den verspielten Betrag auf Dein Bankkonto überweisen, und damit war der Fall für Dich erledigt.

Wenn ich Dir sage, dass ich vom Herbst 1892 bis zu meiner Inhaftierung mehr als £ 5000 in barem Geld mit Dir und für Dich ausgegeben habe, und obendrein noch Schulden machte, dann wird Dir aufgehen, welchen Lebensstil Du mir aufzwangst. Glaubst Du, ich übertreibe? Meine gewöhnlichen Ausgaben für einen gewöhnlichen Tag mit Dir in London – Lunch, Dinner, Souper, Vergnügungen, Droschken und alles übrige – beliefen sich auf £ 12 bis £ 20, und die Ausgaben für eine Woche betrugen dementsprechend zwischen £ 8o und £ 130. Unsere drei Monate in Goring haben mich (einschließlich Miete natürlich) £ 1340 gekostet. Mit dem Konkursverwalter musste ich jeden Posten meines Lebens einzeln durchgehen. Es war grässlich. »Einfach leben und edel denken”3 war natürlich ein Ideal, mit dem Du damals noch nichts anfangen konntest, aber solche Vergeudung war für uns beide eine Schande. Eines der reizendsten Dinners, an die ich mich erinnere, habe ich zusammen mit Robbie in einem kleinen Café in Soho eingenommen, es kostete etwa so viel in Shilling, wie meine Dinners mit Dir in Pfund zu kosten pflegten. Auf mein Dinner mit Robbie geht mein erster und bester Essay zurück.4 Idee, Titel, Aufbau, Form, alles ist bei einem Menu zu 3 Francs 5o herausgekommen. Von den üppigen Dinners mit Dir bleibt nur die Erinnerung an zu viele Speisen und zu viele Getränke. Und dass ich Dir in allem nachgab, war schlecht für Dich. Du weißt es jetzt. Es hat Dich noch gieriger gemacht: gelegentlich recht skrupellos: und immer unliebenswürdig. Bei viel zu häufigen Gelegenheiten war es weder ein Vergnügen noch ein Vorzug, Dein Gastgeber zu sein. Es fehlte – ich will nicht sagen die formelle Höflichkeit Deines Dankes, denn formelle Höflichkeiten belasten eine enge Freundschaft -, es fehlte einfach die Atmosphäre vertrauten Beisammenseins, der Zauber angenehmer Unterhaltung, und jene feine Bildung, die das Leben verschönt, es begleitet wie Musik, die Dinge in Harmonie bringt und grelle oder stumme Stellen mit Wohlklang überbrückt. Es befremdet Dich vielleicht, dass ein Mensch in meiner schrecklichen Lage einen Unterschied zwischen der einen Schande und der anderen findet; dass ich jedoch soviel Geld an Dich wegwarf und Dich widerstandslos mein Vermögen zu meinem und Deinem Schaden verschleudern ließ, diese Torheit, ich muss es offen gestehen, verleiht meinem Bankrott in meinen Augen den Anstrich einer vulgären Liederlichkeit, die mich den Zusammenbruch als doppelt beschämend empfinden lässt. Ich war für andere Dinge geschaffen.

Doch mein bitterster Vorwurf gegen mich selbst geht dahin, dass ich Dich meine sittliche Persönlichkeit völlig untergraben ließ. Die Basis des Charakters ist die Willenskraft, und meine ganze Willenskraft ordnete sich der Deinen unter. Es klingt grotesk, ist aber darum nicht weniger wahr. Die ständigen Szenen, die für Dich beinahe ein physisches Bedürfnis zu sein schienen und die Deinen Sinn und Deine Züge verzerrten und Dein Bild und Deine Worte gleich abstoßend machten: die abscheuliche Manie, die Du von Deinem Vater geerbt hast, die Manie, empörende und gemeine Briefe zu schreiben: die völlige Unbeherrschtheit Deiner Gefühle, die sich bald in langem, schmollendem Schweigen äußerte, bald in jähen, fast epileptischen Wutanfällen: alle diese Dinge, derentwegen ich Dich in einem meiner Briefe beschwor, den Du im Savoy oder in einem anderen Hotel herumliegen ließest und den der Anwalt Deines Vaters dem Gericht vorlegte, eine Beschwörung, die nicht frei war von Pathos, doch Du warst damals unfähig, Pathos in seinem Wesen oder seinen Äußerungen zu erkennen5 : – alle diese Dinge waren Grund und Anlass meiner fatalen Nachgiebigkeit gegen Deine täglich wachsenden Forderungen. Du hast mich mürbe gemacht. Es war der Triumph der kleineren über die größere Natur. Es war ein Fall jener Tyrannei des Schwachen über den Starken, von der ich irgendwo in einem meiner Stücke sage, dass sie »die einzige Tyrannei ist, die sich auf die Dauer hält«.6

Und sie war unvermeidlich. In jeder engen menschlichen Beziehung muss man ein moyen de vivre finden. In Deinem Fall hatte man nur die Möglichkeit, Dir entweder nachzugeben oder Dich aufzugeben. Eine andere Alternative gab es nicht. Aus tiefer, wenn auch verfehlter Zuneigung zu Dir: aus großer Nachsicht mit Deiner Unausgeglichenheit und Deinen Schwächen: aus der mir eigenen sprichwörtlichen Gutmütigkeit und keltischen Trägheit: aus der Aversion des Künstlers gegen derbe Auftritte und rüde Ausdrücke: aus der für mich damals typischen Unfähigkeit, jemandem etwas nachzutragen: aus Abneigung, mir das Leben verbittern und entstellen zu lassen durch Dinge, die mir, dessen Augen auf ganz andere Dinge gerichtet waren, als bloße Lappalien erschienen, zu unwichtig, um mehr als flüchtige Überlegung und Beachtung zu verdienen – aus all diesen Gründen, die im einzelnen einfältig klingen mögen, gab ich Dir schließlich immer nach. Kein Wunder, dass Deine Ansprüche, Deine Herrschsucht, Deine Erpressungen ins Maßlose wuchsen. Die niedrigste Regung, das banalste Gelüst, die vulgärste Leidenschaft wurde Dir zum Gesetz, dem das Leben anderer sich stets zu beugen hatte und dem sie notfalls skrupellos geopfert wurden. Das Wissen, dass Du bloß eine Szene zu machen brauchtest, um jederzeit alles zu erzwingen, stachelte Dich natürlicherweise und zweifellos beinah unbewusst zu Exzessen gemeiner Gewalttätigkeit an. Am Ende wusstest Du nicht mehr, was Du wolltest oder warum Du es wolltest. Nachdem Du mein Genie, meine Willenskraft und mein Vermögen in Beschlag genommen hattest, verlangtest Du in blinder, unersättlicher Gier meine ganze Existenz. Und nahmst sie. In dem im wahrsten und tragischsten Sinne kritischen Augenblick meines Lebens, kurz ehe ich den verhängnisvollen Schritt tat und mich auf jenen absurden Prozess einließ, attackierte mich von der einen Seite Dein Vater mit widerlichen Karten, die er in meinem Club abgab, und auf der anderen Seite attackiertest Du mich mit nicht minder ekelhaften Briefen. Am Morgen des Tages, an dem ich mich von Dir zum Polizeigericht schleppen ließ, um den lächerlichen Haftbefehl gegen Deinen Vater zu erwirken, hatte ich einen der übelsten und beschämendsten Briefe erhalten, die Du jemals geschrieben hast. Zwischen euch beide gestellt, verlor ich den Kopf. Meine Urteilsfähigkeit verließ mich. Panik trat an ihre Stelle. Ich sah, offen gestanden, keine Möglichkeit mehr, einem von Euch zu entfliehen. Blind tappte ich dahin, wie ein Ochse zum Schlachthaus. Ich hatte einen gewaltigen psychologischen Irrtum begangen. Ich hatte die ganze Zeit geglaubt, mein Nachgeben in unwichtigen Dingen hätte nichts zu bedeuten: ich könnte im entscheidenden Augenblick meiner Willenskraft wieder zu ihrer natürlichen Überlegenheit verhelfen. Das stimmte nicht. Im entscheidenden Augenblick ließ meine Willenskraft mich im Stich. Im Leben gibt es tatsächlich nichts Entscheidendes oder Unwichtiges. Alle Dinge sind gleichwertig und gleichgewichtig. Meine zunächst hauptsächlich auf Gleichgültigkeit beruhende Gewohnheit, Dir in allem nachzugeben, war unbemerkt ein Teil meines Wesens geworden. Ohne dass ich es wusste, hatte sie mein Temperament auf eine einzige verhängnisvolle Stimmung festgelegt. Deshalb sagt Pater in dem subtilen Epilog zur ersten Auflage seiner Essays, »Scheitern heißt, Gewohnheiten annehmen«. Das stumpfsinnige Volk von Oxford deutete diesen Ausspruch als bloße eigenwillige Umkehrung der recht langweiligen aristotelischen Auffassung von der Ethik, tatsächlich birgt er jedoch eine wunderbare, eine schreckliche Wahrheit. Ich hatte zugelassen, dass Du meine Moral untergrubst, und die Annahme einer Gewohnheit führte bei mir nicht nur zum Scheitern, sondern zum Untergang. In moralischer Hinsicht hast Du mich noch weit mehr gelähmt als in künstlerischer.

Sobald der Haftbefehl ausgestellt war, lenkte Dein Wille selbstverständlich alles Weitere. Während ich mich in London um kundigen Rat bemühen und in Ruhe die gemeine Falle hätte studieren sollen, in der ich mich hatte fangen lassen – die Gimpelfalle, wie Dein Vater sie noch heute nennt -, musste ich unbedingt mit Dir nach Monte Carlo fahren, ausgerechnet an diesen abstoßendsten aller Orte auf Gottes weiter Welt, damit Du Tag und Nacht, solange das Casino geöffnet war, am Spieltisch sitzen konntest. Ich konnte mir – da das Bakkarat mich nicht reizt – draußen die Zeit vertreiben. Du warst nicht dazu zu bewegen, auch nur fünf Minuten lang mit mir die Lage zu beraten, in die Ihr, Du und Dein Vater, mich gebracht hattet. Ich hatte lediglich Deine Hotelrechnung und Deine Spielschulden zu bezahlen. Die kleinste Anspielung auf die Feuerprobe, die mir bevorstand, ödete Dich an, eine neue Champagnermarke, die uns empfohlen wurde, interessierte Dich mehr.

Als wir nach London zurückkehrten, beschworen mich Freunde, die wirklich um mein Wohl besorgt waren, ich solle ins Ausland gehen, mich nicht auf einen unmöglichen Prozess einlassen. Weil sie mir diesen Rat gaben, unterstelltest Du ihnen niedrige Motive, und mich nanntest Du feige, weil ich ihn anhörte. Du zwangst mich zu bleiben und die Sache mit allen Mitteln durchzufechten, wenn möglich im Zeugenstand durch Leistung von absurden und dummen Meineiden. Am Ende wurde ich natürlich festgenommen, und Dein Vater war der Held des Tages: ja, mehr als der Held des Tages: Deine Familie hat sich jetzt, so komisch das ist, unter die Unsterblichen gereiht: denn durch jene groteske Unberechenbarkeit, die gewissermaßen ein gotisches Element in der Geschichte darstellt und Klio zur unseriösesten aller Musen macht, wird Dein Vater in der Schar der gütigen, reingesinnten Eltern aus den Erbauungsgeschichten fortleben und Du an der Seite des Knaben Samuel, ich aber sitze im tiefsten Kot des Malebolge zwischen Gilles de Retz und dem Marquis de Sade.

Natürlich hätte ich mit Dir brechen sollen. Ich hätte Dich aus meinem Leben schleudern sollen, wie man ein stechendes Insekt von seinem Anzug schleudert. Im schönsten seiner Dramen erzählt Aischylos7 uns von jenem Hirtenkönig, der ein Löwenjunges, in seinem Hause aufzieht und es liebt, weil es freudig seinem Rufe folgt und wedelnd seinen Hunger kundtut. Doch es wird größer und zeigt seine wahre Natur, vernichtet den König und sein Haus und seine ganze Habe. Mir ging es ähnlich wie diesem König. Doch mein Fehler war nicht, dass ich mich nicht von Dir trennte, sondern dass ich mich zu oft von Dir trennte. Soweit ich mich entsinne, kündigte ich Dir regelmäßig alle drei Monate die Freundschaft, und jedes Mal brachtest Du es fertig, sei es durch Bitten, Telegramme, Briefe, durch Vermittlung Deiner oder auch meiner Freunde und auf sonstige Art, dass ich Dich wieder aufnahm. Als Du Ende März ‘93 mein Haus in Torquay verließest, war ich entschlossen, nie mehr mit Dir zu sprechen und Dich unter keinen Umständen mehr in meine Nähe zu lassen, so empörend war der Auftritt gewesen, den Du am Vorabend Deiner Abreise gemacht hattest. Aus Bristol batest Du mich in Briefen und Telegrammen um Verzeihung und um ein Wiedersehen. Dein Hauslehrer, der in Torquay geblieben war, sagte mir, dass Du seiner Meinung nach manchmal einfach nicht verantwortlich seist für das, was Du sagtest und tätest, und dass die meisten, wenn nicht alle Studenten des Magdalen College diese Meinung teilten. Ich willigte ein, Dich wiederzusehen, und verzieh Dir natürlich. Auf der Fahrt nach London batest Du mich, mit Dir ins Savoy zu gehen. Das wurde mein Verhängnis.

Drei Monate später, im Juni, waren wir in Goring. Einige Deiner Freunde aus Oxford kamen übers Wochenende auf Besuch. Am Morgen ihrer Abreise machtest Du eine so fürchterliche, so peinliche Szene, dass ich Dir sagte, wir müssten uns trennen. Ich weiß noch gut, wie wir auf dem gepflegten Rasen des ebenen Crocketplatzes standen und ich Dir auseinander setzte, dass wir einander nur das Leben schwer machten, dass Du meines völlig ruiniertest und dass ich Dich offensichtlich nicht wirklich glücklich machte und dass unwiderrufliche Trennung, ein endgültiger Schlussstrich, die einzig kluge und philosophische Lösung sei. Du reistest nach dem Lunch schmollend ab, nicht ohne dem Butler einen Deiner kränkendsten Briefe mit der Anweisung hinterlassen zu haben, ihn mir nach Deiner Abreise auszuhändigen. Vor Ablauf von drei Tagen telegrafiertest Du aus London, ich möge Dir verzeihen und Dich zurückkommen lassen. Ich hatte das Haus nur Dir zuliebe gemietet. Ich hatte auf Dein Verlangen Deine eigenen Diener engagiert. Es tat mir immer mehr leid, dass Du ein Opfer dieser grässlichen Launenhaftigkeit warst. Ich hatte Dich gern. Und so ließ ich Dich zurückkommen und verzieh Dir. Drei Monate später, im September, kam es zu neuerlichen Szenen, weil ich Dich auf die Schuljungenschnitzer in Deinem Übersetzungsentwurf von Salome aufmerksam gemacht hatte. Inzwischen kannst Du genug Französisch und weißt, dass diese Übersetzung eines Oxford-Studenten, der Du ja warst, ebenso unwürdig war wie des Werkes, das sie wiedergeben sollte. Damals wusstest Du das natürlich noch nicht, und in einem Deiner ausfallenden Briefe, die Du mir in dieser Sache schriebst, sagtest Du, Du seist mir in »intellektueller Hinsicht nicht verpflichtet«. Als ich das las, spürte ich, dass es der einzige wahre Satz war, den Du mir im Laufe unserer ganzen Freundschaft geschrieben hattest. Ich sah ein, dass eine weniger kultivierte Natur viel besser zu Dir gepasst hätte. Ich sage das jetzt nicht aus Verbitterung, sondern stelle es einfach als Tatsache fest. Die Voraussetzung für jede menschliche Bindung, sei es Ehe oder Freundschaft, ist letztlich das Gespräch; dieses Gespräch muss eine gemeinsame Basis haben, und bei zwei Menschen von sehr verschiedenem Bildungsniveau kann diese Basis nur auf der niedrigsten Ebene liegen. Trivialität in Wort und Tat ist bezaubernd. Ich hatte sie zum Grundstein einer geistreichen Philosophie gemacht, die ich in meinen Theaterstücken und Paradoxen zum Ausdruck brachte. Aber den Tand und die Torheit unseres gemeinsamen Lebens empfand ich oft als öde: nur im Morast begegneten wir uns: und so faszinierend, schrecklich faszinierend das einzige Thema war, um das Deine Reden beharrlich kreisten, am Ende langweilte es mich nur noch. Es langweilte mich oft tödlich, doch ich nahm es hin, wie ich Deine Leidenschaft für Varietèvorstellungen hinnahm oder Deine Manie für sinnloses Prassen oder Deine sonstigen, für mich noch weniger anziehenden Eigenheiten: als etwas nämlich, womit man sich eben abzufinden hatte, als einen Teil des hohen Preises, den man für Deine Bekanntschaft bezahlen musste. Als ich nach unserem Aufenthalt in Goring für zwei Wochen nach Dinard fuhr, warst Du mir sehr böse, weil ich Dich nicht mitnahm, machtest mir deshalb vor meiner Abreise mehrere sehr unerquickliche Szenen im Albemarle Hotel und schicktest mir ebenso unerquickliche Telegramme in das Landhaus, in dem ich ein paar Tage zu Gast war. Ich weiß noch, dass ich Dir sagte, es sei Deine Pflicht, eine Weile bei Deinen Angehörigen zu bleiben, nachdem Du den ganzen Sommer fern von ihnen verbracht hattest. Doch um die Wahrheit zu sagen, ich hätte Dich unter keinen Umständen um mich haben können. Wir waren fast zwölf Wochen lang zusammen gewesen. Ich brauchte Ruhe und musste mich von den schrecklichen Strapazen Deiner Gesellschaft erholen. Ich musste eine Welle mit mir allein sein. Es war eine intellektuelle Notwendigkeit. Und so sah ich, offen gestanden, in Deinem eben zitierten Brief eine treffliche Gelegenheit, die verhängnisvolle Freundschaft, die sich zwischen uns entwickelt hatte, zu beenden, sie ohne Bitterkeit zu beenden, wie ich es schon drei Monate früher an jenem strahlenden Junimorgen in Goring versucht hatte. Ich wurde jedoch darauf aufmerksam gemacht – wie ich zugeben muss, von einem meiner Freunde, an den Du Dich in Deiner Bedrängnis gewandt hattest -, dass Du tief verletzt sein würdest, vielleicht sogar gedemütigt, wenn Du Deine Arbeit wie einen Schulaufsatz zurückerhieltest; dass ich Dich geistig überfordere; und dass Du mir, was immer Du schreiben oder tun würdest, aufrichtig ergeben seist. Ich wollte nicht der erste sein, der Deine literarischen Gehversuche hemmte oder geringschätzte: ich wusste genau, dass Farbe und Rhythmus meines Werkes nur in der Übersetzung eines Dichters erhalten bleiben würden: doch Ergebenheit war und ist für mich noch immer etwas sehr Schönes, das man nicht leichthin abtun sollte: und so nahm ich die Übersetzung und Dich wieder an. Genau drei Monate danach, nach einer Reihe von Auftritten, die ihren Höhepunkt in einer besonders abstoßenden Szene fanden, als Du an einem Montagabend in Begleitung zweier Freunde bei mir auftauchtest, flüchtete ich buchstäblich am nächsten Morgen vor Dir ins Ausland. Ich nannte meinen Angehörigen irgendeinen albernen Grund für meine plötzliche Abreise und hinterließ meinem Diener eine falsche Adresse, da ich fürchtete, Du könntest sonst mit dem nächsten Zug nachkommen. Ich weiß noch, wie ich an jenem Nachmittag im Zug nach Paris eilte und darüber nachdachte, wie unmöglich, wie schrecklich, wie völlig verfahren mein Leben sein musste, wenn ich, ein Mann von weltweiter Berühmtheit, buchstäblich zur Flucht aus England gezwungen war, um von einer Freundschaft loszukommen, die in mir alles geistig und sittlich Gute zerstörte: dabei floh ich nicht vor einem Fabelwesen, das aus Schlamm und Unrat in unsere moderne Welt gestiegen war und in dessen Fängen ich mich verstrickt hatte, sondern vor Dir, einem jungen Mann meiner eigenen Gesellschaftsschicht, der wie ich in Oxford studiert hatte und ständiger Gast in meinem Hause gewesen war. Es folgten die üblichen Bitt- und Reuetelegramme: ich ignorierte sie. Schließlich drohtest Du, nicht nach Ägypten zu reisen, wenn ich nicht in ein Treffen einwilligte. Ich selbst hatte aber, mit Deinem Wissen und Willen, Deine Mutter gebeten, Dich aus England wegzuschicken, nach Ägypten, da Du in London Dein Leben zerstörtest. Ich wusste, dass es für Deine Mutter eine schreckliche Enttäuschung gewesen wäre, wenn Du nicht gingest, und ihr zuliebe traf ich mich mit Dir und in einer großen Gefühlsaufwallung, die selbst Du nicht vergessen haben kannst, verzieh ich das Vergangene; von der Zukunft jedoch sprach ich kein Wort.

Ich weiß noch, wie ich nach meiner Rückkehr am nächsten Tag traurig in meinem Zimmer in London saß und ernstlich zu ergründen versuchte, ob Du wirklich so seist, wie Du mir erschienst, so voll schrecklicher Fehler, so verderbenbringend für Dich selbst wie für andere, ein Mensch, dessen Gesellschaft, ja dessen bloße Bekanntschaft einem zum Verhängnis wird. Eine ganze Woche lang dachte ich darüber nach, fragte mich, ob ich Dich nicht doch ungerecht oder falsch einschätzte. Und am Ende der Woche wird ein Brief Deiner Mutter abgegeben. Er spiegelte bis ins einzelne den gleichen Eindruck, den auch ich von Dir hatte. Deine Mutter schrieb von Deiner blinden, maßlosen Eitelkeit, die Schuld daran sei, dass Du Dein Zuhause gering achtetest und Deinen älteren Bruder – diese candidissima anima – »wie einen Philister« behandeltest: von Deiner Unbeherrschtheit, die sie davor zurückschrecken ließ, mit Dir über Dein Leben zu sprechen, über das Leben, das Du, wie sie fühlte und wusste, führtest: über Dein Verhalten in Gelddingen, das sie in mehr als einer Hinsicht betrübte: von der Veränderung zu Deinen Ungunsten, die mit Dir vorgegangen sei. Sie sah natürlich ein, dass Du mit einem schrecklichen Erbe belastet bist, und gab es offen zu, gab es voll Entsetzen zu: er ist »dasjenige meiner Kinder, das den unseligen Douglas-Charakter geerbt hat«, schrieb sie. Und abschließend stellte sie fest, sie fühle sich zu der Bemerkung verpflichtet, ihrer Ansicht nach habe Deine Freundschaft mit mir Deine Eitelkeit in einem solchen Maße gesteigert, dass sie zur Quelle all Deiner Fehler wurde, und sie bat mich ernstlich, ich möge mich nicht im Ausland mit Dir treffen. Ich beantwortete ihren Brief umgehend und schrieb ihr, dass ich jedem ihrer Worte beipflichte. Ich schrieb noch viel mehr. Ich ging so weit, wie ich irgend gehen konnte. Ich schrieb ihr, unsere Freundschaft datiere von Deiner Studentenzeit in Oxford, als Du mich gebeten hättest, Dir aus einer Kalamität heikelster Art zu helfen. Ich schrieb ihr, dass Dein Leben schon immer von dem gleichen Problem überschattet gewesen sei. Die Verantwortung für Deine Reise nach Belgien hattest Du Deinem Gefährten zugeschoben, und Deine Mutter machte mir Vorwürfe, dass ich Dich mit ihm bekannt gemacht hatte. Ich legte die Verantwortung dem auf die Schultern, dem sie zukam, nämlich Dir. Schließlich versicherte ich Deiner Mutter, dass ich nicht die geringste Absicht hätte, Dich im Ausland zu treffen, und bat sie, sie möge dafür sorgen, dass Du für mindestens zwei oder drei Jahre dort bliebest, vielleicht als ehrenamtlicher Attaché oder, falls das nicht ginge, zur Erlernung neuerer Sprachen oder unter irgendeinem beliebigen Vorwand; das wäre für Dich und für mich das Beste.

Inzwischen schriebst Du mir mit jeder Post aus Ägypten. Ich reagierte auf keine dieser Mitteilungen. Ich las sie und zerriss sie. Ich hatte endgültig mit Dir Schluss gemacht. Meine Entscheidung stand fest, und freudig widmete ich mich wieder der Kunst, von deren Vervollkommnung ich mich durch Dich so lange abhalten ließ. Nach Ablauf von drei Monaten schreibt mir doch tatsächlich Deine Mutter – zweifellos auf Dein Bestreben – aus jener unglückseligen Willensschwäche heraus, die ihr eigen ist und die in der Tragödie meines Lebens eine nicht minder verhängnisvolle Rolle spielt als die Gewalttätigkeit Deines Vaters, und teilt mir mit, Du wartest sehnlichst auf eine Nachricht von mir, und damit ich keinen Vorwand hätte, Dir nicht zu schreiben, gibt sie mir Deine Adresse in Athen, die ich natürlich genau kannte. Ich gestehe, dass ihr Brief mich überraschte. Ich verstand nicht, wie sie nach dem, was sie mir im Dezember geschrieben und was ich ihr darauf geantwortet hatte, den Versuch machen konnte, meine unglückselige Freundschaft mit Dir zu kitten oder zu erneuern. Selbstverständlich bestätigte ich ihren Brief und riet ihr dringend zu dem Versuch, Dich doch bei einer ausländischen Gesandtschaft unterzubringen, damit Du nicht nach England zurückkehrtest; Dir jedoch schrieb ich nicht und nahm nach wie vor keine Notiz von Deinen Telegrammen. Schließlich gingst Du soweit, an meine Frau zu depeschieren, sie solle doch ihren Einfluss auf mich geltend machen und mich veranlassen, Dir zu schreiben. Unsere Freundschaft war für sie schon immer eine Quelle der Betrübnis gewesen: nicht nur, weil sie Dich persönlich nie mochte, sondern weil sie sah, wie der Umgang mit Dir mich veränderte, und zwar nicht zu meinem Vorteil: dennoch, sie war nicht nur immer liebenswürdig und gastfreundlich zu Dir, sie konnte auch den Gedanken nicht ertragen, dass ich eine Unfreundlichkeit – als solche betrachtete sie es – gegen einen meiner Freunde beging. Sie glaubte, ja sie wusste, dass das meinem Charakter zuwiderlief. Auf ihre Bitte hin nahm ich mit Dir Verbindung auf. Ich erinnere mich noch an den Wortlaut meines Telegramms. Ich schrieb, die Zeit heile alle Wunden, doch müssten noch viele Monate vergehen, ehe ich Dir wieder schreiben oder Dich sehen könne. Du reistest unverzüglich nach Paris ab und schicktest mir von unterwegs leidenschaftliche Telegramme, in denen Du um ein Zusammentreffen batest, um ein einziges nur. Ich lehnte ab. Du trafst an einem späten Samstag Abend in Paris ein und fandest in Deinem Hotel meinen kurzen Brief mit der Mitteilung, dass ich Dich nicht sehen wolle. Am nächsten Morgen traf in der Tite Street ein zehn oder elf Seiten langes Telegramm von Dir ein. Darin sagtest Du, Du könntest einfach nicht glauben, dass ich Dich, ganz gleich, was Du mir angetan habest, um keinen Preis sehen wolle: Du hieltest mir vor, dass Du sechs Tage und sechs Nächte ohne Aufenthalt quer durch ganz Europa gefahren seist, nur um mich wenigstens für eine Stunde zu sehen.

Dein Hilferuf war, wie ich zugeben muss, höchst eindrucksvoll aufgemacht und schloss mit einer kaum verhüllten Selbstmorddrohung. jedenfalls musste ich es so auffassen. Denn Du hattest mir oft erzählt, dass viele Deiner Ahnen die Hand mit dem eigenen Blut befleckt hatten; Dein Onkel ganz bestimmt, Dein Großvater höchstwahrscheinlich; und viele andere aus dem hohlen, morschen Stamm, der Dich hervorgebracht hat. Mitleid, meine alte Neigung zu Dir, Rücksicht auf Deine Mutter, für die Dein Tod unter so grässlichen Umständen ein kaum zu ertragender Schicksalsschlag gewesen wäre, der schreckliche Gedanke, dass ein so junges Leben, das bei all seinen hässlichen Fehlern doch Schönes verhieß, ein so entsetzliches Ende nehmen sollte, reine Menschlichkeit, all diese Regungen müssen mir als Entschuldigung dafür dienen -falls es einer Entschuldigung bedarf -, dass ich Dir eine letzte Zusammenkunft gewährte. Ich kam nach Paris: und Du brachst den ganzen Abend immer wieder in Tränen aus, die wie Regen über Deine Wangen flossen, zuerst während des Diners bei Voisin, anschließend beim Souper bei Paillard: Du zeigtest Freude über das Wiedersehen, fasstest so oft es ging nach meiner Hand wie ein braves, reuiges Kind: Du warst an diesem Abend voll ungekünstelter aufrichtiger Zerknirschung: und so gab ich nach und erneuerte unsere Freundschaft. Zwei Tage nach unserer Ankunft in London sah Dein Vater Dich mit mir beim Lunch im Café Royal, kam an meinen Tisch, trank von meinem Wein, und am gleichen Nachmittag holte er durch einen an Dich gerichteten Brief zu seinem ersten Schlag gegen mich aus.

Seltsamerweise sah ich mich noch einmal, ich will nicht sagen vor die glückliche Möglichkeit, sondern geradezu vor die Pflicht gestellt, mich von Dir zu trennen. Ich brauche Dich wohl kaum daran zu erinnern, dass ich Dein Benehmen mir gegenüber während unseres Aufenthalts in Brighton vom 10. bis 13. Oktober 1894 meine. Dich über drei Jahre zurückzuerinnern, dürfte Dir schwer fallen. Wir jedoch im Kerker, deren Leben kein Ereignis kennt, nur Gram, wir müssen die Zeit nach dem Pochen des Leids und der Erinnerung an bittere Augenblicke messen. Wir haben sonst nichts, woran wir denken könnten. Das Leid ist – so wunderlich Dir das klingen mag – das Mittel, durch das wir existieren, weil es das einzige Mittel ist, das uns die eigene Existenz noch bewusst macht; und die Erinnerung an frühere Leiden brauchen wir als Gewähr, als Beweis dafür, dass wir noch immer wir selbst sind. Zwischen mir und meinen freudigen Erinnerungen liegt ein Abgrund, der nicht minder tief ist als der Abgrund zwischen mir und den wirklichen Freuden des Daseins. Wäre unser gemeinsames Leben so gewesen, wie die Welt es sich vorstellt, ein Leben in Vergnügungen, Üppigkeit und Freude, dann könnte ich mich an keine Einzelheit mehr erinnern. Weil es aber so viele Augenblicke und Tage gab, die tragisch, bitter und gespenstisch waren mit ihren Anzeichen kommenden Unheils, öde oder qualvoll mit ihren immer wiederkehrenden Auftritten und hässlichen Streitereien, darum sehe oder höre ich jeden einzelnen Vorfall noch heute in aller Schärfe, ja ich sehe oder höre kaum etwas anderes. An diesem Ort lebt man so ausschließlich vom Schmerz, dass meine Freundschaft mit Dir, so wie sie sich meiner Erinnerung aufzwingt, mir immer wie ein stimmiges Präludium zu dem Chor der Angststimmen erscheint, den ich Tag für Tag hören, nein, schlimmer noch: selbst dirigieren muss; als wäre mein Leben, was immer ich selbst und andere darin gesehen haben, die ganze Zeit über eine wahre Symphonie des Schmerzes gewesen, eine Suite rhythmisch verbundener Sätze, die ihrem sicheren Schlussfall mit jener Zwangsläufigkeit zueilen, die in der Kunst für die Behandlung eines jeden großen Themas charakteristisch ist.

Es war die Rede von Deinem Benehmen mir gegenüber an drei aufeinanderfolgenden Tagen vor drei Jahren gewesen, nicht wahr? Ich versuchte, mein letztes Theaterstück in Worthing zu vollenden. Du warst soeben nach Deinem zweiten Besuch dort abgereist. Nun tauchtest Du plötzlich ein drittes Mal auf, und zwar mit einem Begleiter, der nach Deinem eigenen Vorschlag im Hause wohnen sollte. Ich lehnte entschieden (und wie Du jetzt zugeben musst, zu recht) ab. Du warst selbstverständlich mein Gast – in dem Punkt hatte ich keine Wahl -, aber nicht in meinem Haus: ich brachte Dich anderswo unter. Am nächsten Tag, einem Montag, kehrte Dein Gefährte zu seinen beruflichen Pflichten zurück, und Du bliebst bei mir. Du findest Worthing langweilig und erst recht meine nutzlosen Versuche, mich auf mein Stück zu konzentrieren, auf das Einzige, was mich im Augenblick wirklich interessierte, und zwingst mich, mit Dir nach Brighton ins Grand Hotel zu übersiedeln. Am Abend unserer Ankunft erkrankst Du an dem grässlichen, tückischen Fieber, das man fälschlicherweise Influenza nennt. Es war Dein zweiter oder sogar dritter Anfall. Ich brauche Dich nicht daran zu erinnern, wie ich Dich hegte und pflegte, nicht nur mit allem Luxus, den Geld beschaffen kann, Früchte, Blumen, Geschenke, Bücher und dergleichen, sondern auch mit jener Hingabe, Zärtlichkeit und Liebe, die man, wie immer Du darüber denken magst, nicht für Geld bekommt. Nur zu einem einstündigen Spaziergang am Morgen und einer einstündigen Ausfahrt am Nachmittag verließ ich das Hotel. Ich ließ Dir aus London die erlesensten Trauben kommen, denn die Trauben, die es im Hotel gab, mochtest Du nicht, erfand allerlei Zeitvertreib für Dich, blieb bei Dir oder im anstoßenden Zimmer und saß jeden Abend an Deinem Bett, um Dich zu beruhigen oder aufzuheitern.

Nach vier oder fünf Tagen bist Du wieder gesund, und ich miete eine Wohnung, um endlich mein Stück fertigzuschreiben. Selbstverständlich begleitest Du mich. Am Morgen nach unserem Einzug fühle ich mich schwer krank. Du musst geschäftlich nach London, versprichst aber, nachmittags zurück zu sein. In London triffst Du einen Bekannten und kommst erst am späten Abend des folgenden Tages nach Brighton zurück. Inzwischen habe ich hohes Fieber, und die Ärzte stellen fest, dass ich mir von Dir die Influenza geholt habe. Und die Unterkunft erweist sich als denkbar unbequem für einen Kranken. Mein Wohnzimmer ist im Erdgeschoss, mein Schlafzimmer im zweiten Stock. Es gibt keinen Diener, der eine Handreichung tun, nicht einmal jemand, den man auf einen Botengang oder in die Apotheke schicken könnte. Aber Du bist ja da. Ich brauche mich nicht zu beunruhigen. Die beiden nächsten Tage lässt Du mich ohne Pflege, ohne Bedienung, ohne alles. Es ging nicht um Trauben, Blumen und reizende Geschenke: es ging um das Allernötigste: ich konnte nicht einmal die Milch bekommen, die der Arzt mir verordnet hatte: Zitronenwasser war angeblich nicht zu haben: und als ich Dich bat, mir ein bestimmtes Buch in der Buchhandlung zu besorgen oder, falls es nicht vorrätig wäre, etwas anderes auszusuchen, machtest Du Dir nicht einmal die Mühe, hinzugehen. Und nachdem ich so den ganzen Tag nichts zu lesen hatte, erklärst Du in aller Ruhe, Du habest das Buch gekauft und man habe Dir versprochen, es mir zu schicken, eine Behauptung, die, wie ich später zufällig feststellte, Wort für Wort erlogen war. Die ganze Zeit lebst Du natürlich auf meine Kosten, fährst aus, dinierst im Grand Hotel und erscheinst nur, wenn Du Geld brauchst. Am Samstagabend, nachdem Du mich den ganzen Tag hilflos und allein gelassen hattest, bat ich Dich, nach dem Dinner zurückzukommen und mir ein Weilchen Gesellschaft zu leisten. Ungehalten und in gereiztem Ton versprichst Du mir es. Ich warte bis elf, vergebens. Daraufhin hinterließ ich ein paar Zellen für Dich in Deinem Zimmer, nur um Dich an Dein Versprechen zu erinnern und daran, wie Du es gehalten hattest. Um drei Uhr morgens schlief ich noch immer nicht, der Durst quälte mich und ich tastete mich im Dunkeln und in der Kälte hinunter ins Wohnzimmer, wo ich Wasser zu finden hoffte. Ich fand Dich. Du fielst mit allen Beschimpfungen über mich her, die unbeherrschte Laune und ein ungebärdiges und ungebändigtes Naturell sich ausdenken können. Durch die schreckliche Alchimie des Egotismus verwandeltest Du Deine Gewissensbisse in Wut. Weil ich Dich in meiner Krankheit um mich haben wollte, warfst Du mir vor, ich sei selbstsüchtig, ich gönnte Dir kein Vergnügen; ich wollte Dich hindern, Dein Leben zu genießen. Du sagtest, und ich weiß, dass es stimmte, Du seist um Mitternacht nur zurückgekommen, um Dich umzukleiden und erneut auszugehen, neuen Freuden entgegen, doch der Brief, den Du vorfandest und worin ich Dich daran erinnert hatte, dass Du mich den ganzen Tag und den ganzen Abend vernachlässigt hattest, habe Dir jede Lust an weiteren Vergnügungen verdorben, ja Deine Aufnahmefähigkeit für neue Genüsse vermindert. Voller Ekel ging ich wieder hinauf, lag schlaflos bis zum Morgen, und erst lange nach Tagesanbruch konnte ich meinen Fieberdurst löschen. Um elf Uhr kamst Du in mein Zimmer. Während unseres Auftritts konnte ich mir nicht verkneifen, zu bemerken, dass mein Brief wenigstens den Ausschweifungen einer Nacht, die über das übliche Maß hinausgingen, ein Ende gesetzt hatte. Am Morgen warst Du unverändert. Ich wartete natürlich, was Du zu Deiner Entschuldigung vorbringen und mit welchen Worten Du um Vergebung bitten würdest, die Dir, wie Du genau wusstest, völlig gewiss war, ganz gleich, was Du getan hattest; Deine unerschütterliche Überzeugung, dass ich Dir immer verzeihen würde, war ja gerade das, was ich am meisten an Dir liebte, vielleicht überhaupt das Liebenswerteste an Dir. Doch weit gefehlt, Du machtest Miene, die gleiche Szene in noch heftigerem Tone und anmaßenderer Ausfälligkeit zu wiederholen. Schließlich befahl ich Dir, mein Zimmer zu verlassen; Du sagtest, Du wolltest gehen, doch als ich den Kopf von dem Kissen hob, worin ich ihn vergraben hatte, warst Du noch immer da und kamst plötzlich mit brutalem Gelächter und in hysterischer Wut auf mich zu. Grauen überkam mich, warum, konnte ich nicht genau sagen: aber ich stand sofort auf und schleppte mich, barfuss, wie ich war, die beiden Stockwerke zum Wohnzimmer hinunter, das ich nicht mehr verließ, bis der Hausbesitzer – nach dem ich geklingelt hatte – mir versicherte, Du hättest mein Schlafzimmer verlassen, und versprach, sich für den Notfall in Rufweite zu halten. Eine Stunde verging, der Arzt war da gewesen und hatte mich natürlich in einem Zustand völliger nervöser Erschöpfung und mit höherem Fieber als bei Ausbruch der Krankheit angetroffen, da kamst Du heimlich zurück, um Dir Geld zu holen – nahmst Dir, was Du auf Kommode und Kaminsims finden konntest und verließest das Haus mitsamt Deinem Gepäck. muss ich Dir sagen, was ich während der zwei folgenden elenden, einsamen Krankheitstage von Dir dachte? muss ich wirklich aussprechen, dass ich es als Schmach empfand, mit dem Menschen, als den Du Dich erwiesen hattest, weiterhin auch nur bekannt zu sein? dass ich den Augenblick der Trennung gekommen sah und ihn wirklich mit großer Erleichterung begrüßte? Und dass ich wusste, in Zukunft würden meine Kunst und mein Leben in jeder Hinsicht freier, besser und schöner sein? So krank ich war, ich fühlte mich wohl. dass die Trennung endgültig sein würde, brachte mir Frieden. Am Dienstag war das Fieber gewichen, und ich aß zum erstenmal unten. Mittwoch war mein Geburtstag. Unter den Telegrammen und Glückwünschen auf meinem Tisch war ein Brief mit Deiner Handschrift. Ich öffnete ihn, und Wehmut ergriff mich. Ich wusste, dass die Zeit vorüber war, in der ein hübscher Satz, eine zärtliche Wendung, ein Wort des Bedauerns genügt hätten, damit ich Dich wieder aufnehme. Aber ich hatte mich gründlich getäuscht. Ich hatte Dich unterschätzt. Dein Geburtstagsbrief war eine abgefeimte Wiederholung der beiden Szenen, perfid und methodisch schwarz auf weiß festgehalten! Du hast Dich auf billige Art über mich mokiert. Du schriebst, für Dich habe die ganze Sache nur das eine Gute gehabt, dass Du hättest ins Grand Hotel übersiedeln und mir den Lunch, den Du vor Deiner Abreise nach London dort noch einnahmst, auf die Rechnung setzen lassen können. Du gratuliertest mir zu meinem klugen Einfall, vom Krankenlager aufzustehen, zu meiner panischen Flucht über die Treppen. »Es war ein kritischer Augenblick für Dich«, schriebst Du,»kritischer, als Du Dir vorstellen kannst.« Ach! ich fühlte es nur zu genau. Wenn ich auch nicht wusste, was es wirklich zu bedeuten hatte: ob Du die Pistole bei Dir trugst, die Du gekauft hattest, um Deinen Vater damit zu erschrecken, und die Du schon einmal, in der Annahme, dass sie nicht geladen sei, in einem Restaurant in meiner Gegenwart abgefeuert hattest: ob Deine Hand sich auf ein Messer zugbewegte, das zufällig auf dem Tisch zwischen uns lag: ob Du in Deiner Wut vergessen hattest, wie klein und schwächlich Du bist und mir einen ganz besonderen, persönlichen Schimpf antun oder gar mich angreifen wolltest, der ich krank dalag: ich wusste es nicht. Ich weiß es noch heute nicht. Ich weiß nur, dass mich äußerstes Entsetzen packte und dass ich das Gefühl hatte, ich müsse schleunigst aus dem Zimmer und weg von Dir, um Dich vor einer Tat zu bewahren, die selbst für Dich zeitlebens eine Quelle der Scham sein würde. Nur ein einziges Mal in meinem Leben hatte ich vorher solches Grauen vor einem Menschen empfunden. Es war in der Tite Street, als Dein Vater in meiner Bibliothek stand – zwischen uns sein Freund oder Leibwächter – und in epileptischer Wut mit seinen kleinen Händen in der Luft herumfuchtelte, alle zotigen Wörter hervorstieß, die sein zotiges Hirn ausdenken konnte und die gemeinen Drohungen kreischte, die er später hinterlistig ausführte. In diesem Fall war natürlich er derjenige, der das Zimmer als erster verließ. Ich wies ihm die Tür. In Deinem Fall musste ich weichen. Es war nicht das erste Mal, dass ich Dich vor Dir selbst bewahrte.

Du schlossest Deinen Brief mit den Sätzen: »Wenn Du nicht auf Deinem Podest stehst, bist Du uninteressant. Wenn Du wieder einmal krank wirst, verschwinde ich sofort.« Ach! welch ein grobschlächtiges Naturell verrät sich da! Welch ein völliger Mangel an Phantasie! Wie gefühllos, wie gemein war da schon der Ton geworden! »Wenn Du nicht auf Deinem Podest stehst, bist Du uninteressant. Wenn Du wieder einmal krank wirst, verschwinde ich sofort. « Wie oft hallten diese Worte in den elenden Einzelzellen der verschiedenen Gefängnisse wider, in die man mich geschafft hat. Ich wiederhole sie unablässig und sehe in ihnen, zu Unrecht, wie ich noch immer hoffe, eines der Geheimnisse Deines unerklärlichen Schweigens. dass ausgerechnet Du mir etwas so Rüdes und Krudes schriebst, nachdem ich mir die Krankheit und das Fieber, woran ich litt, bei Deiner Pflege zugezogen hatte, war natürlich empörend; ja, jeder Mensch auf der ganzen Welt beginge eine unverzeihliche Sünde, wenn er so an einen anderen Menschen schriebe sollte es so etwas wie unverzeihliche Sünden geben.

Ich gestehe, dass ich mich nach der Lektüre Deines Briefes wie besudelt fühlte, als hätte ich durch den Umgang mit einem Menschen wie Dir mein Leben ein für allemal beschmutzt und geschändet. Und das traf auch zu, doch erst sechs Monate später sollte ich erfahren, wie sehr es zutraf. Ich hatte beschlossen, am Freitag nach London zurückzufahren, Sir George Lewis persönlich aufzusuchen und ihn zu bitten, er möge Deinem Vater schreiben, dass ich entschlossen sei, Dich nie wieder und unter keinen Umständen mein Haus betreten, an meinem Tisch sitzen, mit mir plaudern und ausgehen zu lassen, noch irgendwo oder irgendwann Dich um mich zu dulden. Danach wollte ich Dir schreiben, lediglich um Dich von meinem Vorgehen in Kenntnis zu setzen: die Gründe dafür wären Dir ganz von selbst klargeworden. Am Donnerstagabend war alles in die Wege geleitet. Am Freitagmorgen, als ich kurz vor meinem Aufbruch beim Frühstück saß, warf ich zufällig noch einen Blick in die Zeitung und las, dass Dein älterer Bruder, das eigentliche Familienoberhaupt und der Erbe des Titels, die Säule des Hauses, tot in einem Graben aufgefunden worden war, das abgefeuerte Gewehr neben sich. Die grauenvollen Begleitumstände der Tragödie, die jetzt als Unfall erwiesen ist, die damals aber den Makel eines düsteren Verdachts trug; das Pathos des plötzlichen Todes eines Menschen, der allgemein beliebt war und nun praktisch am Vorabend seiner Hochzeit sterben musste; der Gedanke, wie tief Dein Schmerz sein würde oder sein sollte; die Vorstellung von dem Leid, das Deine Mutter erwartete, nachdem sie den Sohn verloren hatte, der ihr einziger Trost und ihre einzige Freude im Leben gewesen war und der, wie sie mir einmal erzählt hatte, ihr vom Tag seiner Geburt an nicht eine Stunde lang Kummer bereitet hatte; die Vorstellung, wie verloren Du sein müsstest, da Deine beiden anderen Brüder sich fern von Europa aufhielten und Du daher der einzige Mensch sein würdest, an den Deine Mutter und Deine Schwester sich wenden könnten, nicht nur um Trost zu suchen, sondern auch Hilfe bei der Erledigung all der traurigen großen und kleinen Pflichten, die der Tod immer mit sich bringt; das Gefühl für die lacrimae rerum, die Tränen, aus denen die Welt gemacht ist, und die Traurigkeit alles Menschlichen aus all diesen Gedanken und Regungen, die mich durchströmten und sich mir aufdrängten, entsprang unendliches Mitleid mit Dir und den Deinen. Was Du mir an Kränkendem und Bitterem zugefügt hattest, vergaß ich. Ich konnte Dich in Deinem Kummer nicht so behandeln, wie Du mich während meiner Krankheit behandelt hattest. Ich depeschierte Dir sogleich mein tiefstes Mitgefühl und ließ einen Brief folgen, in dem ich Dich einlud, sobald wie möglich in mein Haus zu kommen. Ich hätte es als Grausamkeit empfunden, Dir gerade in diesem Augenblick meine Freundschaft aufzukündigen, noch dazu in aller Form durch einen Anwalt.

Als Du vom Schauplatz der Tragödie, wohin man Dich gerufen hatte, nach London zurückkehrtest, kamst Du sogleich zu mir, sehr süß, sehr schlicht, im Trauergewand und mit tränenfeuchten Augen. Wie ein Kind suchtest Du Trost und Hilfe. Ich öffnete Dir mein Haus und mein Herz. Ich machte Deinen Schmerz auch zu dem meinen, half ihn Dir tragen. Nie, mit keinem Wort, kam ich auf Dein Verhalten mir gegenüber zu sprechen, auf die empörenden Szenen und den empörenden Brief. Dein Kummer, der echt war, schien Dich mir näher zu bringen, als Du mir je gewesen warst. Die Blumen, die Du von mir aufs Grab Deines Bruders legtest, sollten nicht nur die Schönheit seines Lebens symbolisieren, sondern die Schönheit, die in jedem Leben schlummert und auf Erweckung wartet.

Die Götter sind rätselhaft. Nicht nur aus unseren Lüsten erschaffen sie das Werkzeug, uns zu geißeln.8 Sie verderben uns durch das, was in uns gut ist, edel, menschlich, liebenswert. Weil ich mit Dir gefühlt, Dich und die Deinen geliebt habe, darum fließen meine Tränen jetzt an diesem Schreckensort.

Natürlich weiß ich jetzt, dass unsere Beziehungen nicht allein vom Schicksal, sondern vom Unheil gelenkt wurden: einem Unheil, das immer schnell dahinschreitet, da es Blutopfer fordert. Durch Deinen Vater entstammst Du einem Geschlecht, das die Ehe zum Schrecken, Freundschaft zum Verhängnis macht, das gewaltsam Hand anlegt ans eigene Leben oder an das Leben anderer. Allem – jeder Gelegenheit, bei der unsere Bahnen sich kreuzten; jedem Vorfall von großer oder scheinbar trivialer Bedeutung, der Dich auf der Suche nach Vergnügungen oder Hilfe zu mir führte; den kleinen Zufällen, den Nebensächlichkeiten, die am ganzen Leben gemessen nur wie Stäubchen erscheinen, die im Sonnenstrahl tanzen wie Blätter, die vom Baum wehen – folgte die Katastrophe wie das Echo eines Wehlauts, wie der Schatten eines reißenden Raubtiers. Unsere Freundschaft beginnt doch damit, dass Du mich in einem höchst rührenden und reizenden Brief um Beistand in einer Sache bittest, die für jeden schlimm gewesen wäre, und doppelt schlimm war für einen jungen Mann in Oxford: ich helfe Dir, mit dem Ergebnis, dass Du mich bei Sir George Lewis als Deinen Freund ausgibst, wodurch ich seine Wertschätzung und Freundschaft verliere, eine Freundschaft, die seit fünfzehn Jahren bestanden hatte. Als mir sein Rat und Beistand und seine Achtung verloren gingen, verlor ich die einzige große Stütze meines Lebens.

Du schickst mir ein recht hübsches Gedicht, aus der Unterstufe der Verskunst, zur Begutachtung: ich antworte mit einem Brief voll phantastischer literarischer Manierismen: Ich vergleiche Dich mit Hylas oder Hyakinthos, Jonquil oder Narzissus, jedenfalls mit einem, dem der große Gott der Dichtkunst huldvoll seine Liebe schenkte. Dieser Brief ist wie eine Stelle aus einem Shakespeare-Sonett, nach Moll transportiert. Er ist nur denen verständlich, die Platons Gastmahl gelesen oder den Geist jener Schwermut erfasst haben, deren Schönheit uns die griechischen Statuen enthüllen. Es war, offen gesagt, genau der Brief, den ich in einer glücklichen Stimmung oder Laune, wenn man so will, an jeden liebenswürdigen jungen Mann an jeder beliebigen Universität geschrieben hätte, von dem mir ein selbstverfasstes Gedicht zugegangen wäre, in der sicheren Überzeugung, dass er genügend Witz und Bildung besäße, die phantastischen Wendungen richtig zu interpretieren. Schau Dir die Geschichte dieses Briefes an! Von Dir gelangt er in die Hände eines widerlichen Kumpanen: von ihm an eine Erpresserbande: Abschriften werden an meine Freunde in ganz London verschickt und an den Direktor des Theaters, wo gerade mein Stück läuft: er erfährt jede mögliche Auslegung, nur nicht die richtige: die Gesellschaft delektiert sich an dem absurden Gerücht, ich hätte eine Riesensumme bezahlen müssen, weil ich Dir einen infamen Brief geschrieben hätte: daraus konstruiert Dein Vater seine übelste Anklage: Ich selbst lege den Originalbrief dem Gericht vor, um zu zeigen, was wirklich an ihm ist: der Anwalt Deines Vaters brandmarkt ihn als empörenden und heimtückischen Versuch, die Unschuld zu verführen: schließlich wird er zum Gegenstand einer Strafanzeige: der Staatsanwalt bemächtigt sich seiner: der Richter lässt sich mit wenig Wissen und viel Moral über ihn aus: und zum Schluss wandere ich seinetwegen ins Gefängnis. Und das alles, weil ich Dir einen netten Brief geschrieben habe.

Während ich bei Dir in Salisbury zu Besuch bin, beunruhigst Du Dich über einen Drohbrief eines früheren Bekannten: Du bittest mich, den Schreiber aufzusuchen, Dir zu helfen: ich tue es: das Ergebnis ist für mich katastrophal. Ich werde gezwungen, alles, was Du tatest, auf meine Schultern zu nehmen und zu verantworten. Als Du bei der Abschlussprüfung in Oxford durchfällst und von der Universität musst, telegrafierst Du mir nach London, ich solle zu Dir kommen. Ich komme sofort: Du bittest mich, Dich nach Goring mitzunehmen, weil Du unter den gegebenen Umständen nicht nach Hause möchtest: in Goring siehst Du ein Haus, das Dich entzückt: ich miete es für Dich: das Ergebnis ist für mich in jeder Hinsicht katastrophal. Eines Tages kommst Du zu mir und erbittest von mir als ganz persönlichen Gefallen, ich möge etwas für eine Oxforder Studentenzeitschrift schreiben, die ein Freund von Dir gründen wolle, von dem ich nie im Leben gehört hatte und nicht das mindeste wusste. Dir zu Gefallen – was habe ich Dir zu Gefallen nicht alles getan? – schickte ich ihm eine Seite Aphorismen, die ursprünglich für die Saturday Review bestimmt waren. Ein paar Monate später finde ich mich auf der Anklagebank von Old Bailey dank des Rufes der Zeitschrift, die als Belastungsmaterial gegen mich dient. Ich werde aufgerufen, die Prosa Deines Freundes und Deine Verse zu verteidigen. Ersterer ist beim besten Willen nicht zu helfen, letztere verteidigte ich mit allen Mitteln, halte Deiner jugendlichen Literatur und Deinem jugendlichen Leben die Treue bis zum bitteren Ende, will nichts davon hören, dass Du pornographische Gedichte schreiben solltest. Gleichviel, ich gehe ins Gefängnis für die Studentenzeitschrift Deines Freundes und für »die Liebe, die ihren Namen nicht zu nennen wagt«9. Zu Weihnachten mache ich Dir ein »sehr hübsches Geschenk«, wie Du es in Deinem Dankbrief bezeichnest, etwas, was Du Dir von Herzen gewünscht hattest, im Werte von höchstens £ 40 bis £ 5o. Dann geht mein Leben in Trümmer, ich bin ruiniert, der Gerichtsvollzieher pfändet und versteigert meine gesamte Bibliothek und bezahlt damit dieses »sehr hübsche Geschenk«. Dafür war mein Haus unter den Hammer gekommen. Im letzten und schrecklichen Augenblick, als ich durch Sticheleien, ganz besonders von Deiner Seite, so weit gebracht werden soll, Deinen Vater zu verklagen und verhaften zu lassen, führe ich in meinem verzweifelten Bestreben, mich aus der Schlinge zu ziehen, die ungeheuren Kosten ins Treffen. Ich sage dem Anwalt in Deiner Gegenwart, dass ich kein Kapital besäße, dass ich für die immensen Unkosten unmöglich aufkommen könnte, dass ich kein Geld zur Verfügung hätte. Damit sagte ich, wie Du wusstest, die reine Wahrheit. Statt in Humphreys’ Büro schwächlich in meinen eigenen Untergang einzuwilligen, wäre ich an jenem fatalen Freitag glücklich und frei in Frankreich gewesen, weg von Dir und Deinem Vater, unbehelligt von seinen ekelhaften Karten und gleichgültig gegen Deine Briefe, wenn ich das Avondale Hotel hätte verlassen können. Aber die Leute vom Hotel weigerten sich entschieden, mich gehen zu lassen. Du warst dort zehn Tage lang mein Gast gewesen: ja, zuletzt brachtest Du noch zu meiner großen und, wie Du zugeben wirst, gerechten Entrüstung einen Kumpan mit, der ebenfalls auf meine Kosten dort wohnte: meine Rechnung für zehn Tage belief sich auf annähernd £ 140. Der Besitzer sagte, er könne mein Gepäck nicht freigeben, bis ich den vollen Betrag entrichtet hätte. Darum musste ich in London bleiben. Wäre die Hotelrechnung nicht gewesen, ich hätte am Donnerstagmorgen nach Paris reisen können.

Als ich dem Anwalt mitteilte, ich sei solchen Riesenspesen finanziell nicht gewachsen, griffest Du sofort ein. Du sagtest, Deine eigene Familie werde nur zu gern alle notwendigen Kosten übernehmen: Dein Vater laste wie ein Alb auf ihnen allen: sie hätten schon oft die Möglichkeit erwogen, ihn in eine Irrenanstalt zu bringen, um ihn loszuwerden: er sei Deiner Mutter und allen anderen Leuten eine tägliche Quelle des Ärgers und der Qual: wenn ich es nur übernähme, ihn einsperren zu lassen, so würde die Familie in mir ihren Ritter und Wohltäter sehen: die reichen Verwandten Deiner Mutter würden es als die reine Wonne betrachten, alle anfallenden Kosten und Spesen tragen zu dürfen. Der Anwalt hakte sofort ein, und ich wurde eilends zum Polizeigericht geschleppt. jetzt hatte ich keine Ausrede mehr. Ich musste hingehen. Natürlich zahlt Deine Familie die Kosten nicht, und ich werde für bankrott erklärt, und zwar auf Betreiben Deines Vaters und eben wegen der Gebühren – wegen des schäbigen Rests – von einigen £ 70010. Im gegenwärtigen Augenblick betreibt meine Frau, die mir durch die wichtige Frage entfremdet wurde, ob mir wöchentlich £ 3 oder £ 3 und 10 Shilling zum Leben ausgesetzt werden sollen, die Scheidung, wozu natürlich ganz neues Beweismaterial und eine neuerliche Verhandlung nötig sein werden, danach womöglich noch weitere Gerichtsverfahren. Ich bin natürlich über die Einzelheiten nicht im Bilde. Ich kenne lediglich den Namen des Zeugen, auf dessen Aussage die Anwälte meiner Frau sich stützen. Es ist Dein eigener Diener aus Oxford, den ich auf Deinen besonderen Wunsch während unseres gemeinsamen Sommers in Goring beschäftigt hatte.

Doch ich brauche wirklich keine weiteren Beispiele für das seltsame Unheil anzuführen, das Du im großen wie im kleinen über mich gebracht zu haben scheinst. Manchmal ist mir, als wärst Du selbst nur eine Marionette gewesen, von verborgener, unsichtbarer Hand geführt, um schreckliche Dinge zu einem schrecklichen Ende zu bringen. Doch auch Puppen haben ihre Leidenschaften. Sie bringen einen neuen Zug in das Stück, das sie darstellen, verdrehen den jeweils vorgegebenen Ausgang nach eigener Lust und Laune. Völlig frei zu sein und zugleich völlig unter der Herrschaft des Gesetzes zu stehen, ist das ewige Paradoxon des Menschenlebens, das jeder Augenblick uns spürbar macht, und darin liegt auch, wie ich oft denke, die einzig mögliche Erklärung Deines Charakters, wenn es für die tiefen und schrecklichen Geheimnisse einer Menschenseele überhaupt eine Erklärung gibt, die das Mysterium nicht nur noch wunderbarer machte.

Natürlich hattest Du Deine Illusionen, ja Du lebtest in ihnen und sahst durch ihre wogenden Nebel und bunten Schleier alle Dinge verändert. dass Du Dich ganz mir widmetest, völlig auf Deine Familie und Dein Familienleben verzichtetest, hieltest Du, das weiß ich noch genau, für einen Beweis Deiner wunderbaren Wertschätzung für mich, Deiner großen Liebe zu mir. Zweifellos erschien es Dir wirklich so. Doch erinnere Dich, dass ich Dir Luxus bot, Wohlleben, Vergnügen ohne Einschränkung, Geld ohne Maß. Dein Familienleben langweilte Dich. Der »kalte, billige Wein von Salisbury«, um einen Ausdruck Deiner eigenen Prägung zu gebrauchen, schmeckte Dir nicht. Ich bot Dir nicht nur geistige Genüsse, ich bot Dir auch die Fleischtöpfe Ägyptens. Wenn Du meiner nicht habhaft werden konntest, so suchtest Du Dir einen wenig schmeichelhaften Ersatz.

Auch dachtest Du, das ritterliche Ideal der Freundschaft zu verwirklichen, den edelsten Ton der Selbstverleugnung anzuschlagen, wenn Du Deinem Vater durch einen Anwalt schreiben ließest, Du wollest lieber auf das Taschengeld von jährlich £ 250 verzichten, das er Dir damals, glaube ich, abzüglich Deiner Schulden in Oxford aussetzte, als Deine ewige Freundschaft mit mir lösen. Doch der Verzicht auf Deine kleine Rente bedeutete nicht, dass Du auch nur eine Deiner höchst überflüssigen Aufwendigkeiten oder höchst unnötigen Extravaganzen au’ gegeben hättest. Im Gegenteil. Nie war Deine Gier nach Luxus so unersättlich gewesen. Meine Ausgaben für acht Tage in Paris für mich, Dich und Deinen italienischen Diener betrugen annähernd £ 150: allein Paillard verschlang davon £ 85. Bei Deinem Lebensstil hätte Dein gesamtes Jahreseinkommen, selbst wenn Du Deine Mahlzeiten allein eingenommen hättest und besonders haushälterisch in der Wahl Deiner wohlfeileren Vergnügungen gewesen wärst, kaum drei Wochen ausgereicht. dass Du in einer Anwandlung von Großzügigkeit Dein sogenanntes Taschengeld geopfert hattest, lieferte Dir schließlich einen plausiblen Grund zu der Annahme, Du könntest ein Leben auf meine Kosten beanspruchen; oder das, was Du für einen plausiblen Grund hieltest: und bei vielen Gelegenheiten machtest Du ihn ernstlich geltend und bedientest Dich seiner recht gründlich: und die ständigen Aderlasse, die Du vor allem bei mir, aber auch, wie ich weiß, bis zu einem gewissen Grade bei Deiner Mutter vornahmst, waren besonders schmerzlich, da sie, zumindest in meinem Fall, auch nicht vom kleinsten Wort des Dankes oder von der kleinsten Mäßigung begleitet waren.

Ferner dachtest Du, wenn Du Deinen Vater mit abscheulichen Briefen, beleidigenden Telegrammen und kränkenden Postkarten bombardiertest, kämpftest Du wirklich für Deine Mutter, trätest als ihr Ritter in die Schranken und rächtest die zweifellos schrecklichen Unbillen und Leiden ihrer Ehe. Es war reine Illusion Deinerseits; eine Deiner schlimmsten sogar. Es gab ein Mittel, die Leiden Deiner Mutter an Deinem Vater zu rächen, falls Du das für einen Teil Deiner Sohnespflichten hieltest: Du hättest Deiner Mutter ein besserer Sohn sein müssen, als Du ihr warst: Du hättest ihr nicht den Mut nehmen dürfen, ernsthaft mit Dir zu sprechen: Du hättest keine Wechsel unterschreiben dürfen, deren Einlösung dann ihr zufiel: Du hättest freundlicher zu ihr sein, ihr keinen Kummer bereiten sollen. Dein Bruder Francis11 linderte während der kurzen Jahre seines blumenhaften Lebens ihre Leiden durch seine Liebenswürdigkeit und Güte. An ihm hättest Du Dir ein Beispiel nehmen sollen. Selbst Deine Vermutung war irrig, es wäre für Deine Mutter eitel Wonne und Freude gewesen, wenn Du auf dem Umweg über mich Deinen Vater tatsächlich ins Gefängnis gebracht hättest. Ich bin überzeugt, dass Du Dich irrtest. Und wenn Du wissen willst, wie einer Frau wirklich zumute ist, wenn ihr Mann, der Vater ihrer Kinder, Gefängniskleidung trägt, in einer Gefängniszelle sitzt, dann schreibe meiner Frau. Sie wird es Dir sagen.

Auch ich hatte meine Illusionen. Ich glaubte, das Leben würde sich abspielen wie eine geistreiche Komödie und Du würdest eine der vielen anmutigen Personen darin darstellen. Es erwies sich als abscheuliches, abstoßendes Trauerspiel, und Du entpupptest Dich als der unselige Auslöser der großen Katastrophe, unselig durch die Besessenheit und Stoßkraft eines Willens, der nur ein einziges Ziel kennt, die Maske der Freude und Lust fiel von Dir ab, von der Du Dich nicht minder als ich hattest täuschen und in die Irre führen lassen.

Nun verstehst Du – Du verstehst doch? – einiges von meinen Leiden. Eine Zeitung, ich glaube, es war die Pall Mall Gazette, sprach in ihrer Rezension der Generalprobe eines meiner Stücke von Dir als von meinem Schatten, mir überallhin folge: die Erinnerung an unsere Freundschaft ist der Schatten, der mich hier begleitet: der sich nie von mir zu trennen scheint: der mich nachts aufweckt, um mir immer wieder die gleiche Geschichte zu erzählen, bis das quälende Geleier den Schlaf für den Rest der Nacht verscheucht: bei Tagesgrauen ist er auch schon wach: er folgt mir in den Gefängnishof und zwingt Mich, mit mir selbst zu reden, während ich im Kreis trotte: jede Einzelheit eines jeden schrecklichen Augenblicks fällt mir wieder ein: nichts hat sich in jenen Unglücksjahren ereignet, was ich nicht in jenem Fach meines Hirns reproduzieren könnte, wo Leid und Verzweiflung ihren Sitz haben: jeder gespannte Ton Deiner Stimme, jede Zuckung und Geste Deiner nervösen Hände; jedes bittere Wort, jeder vergiftende Satz wird wieder gegenwärtig: ich sehe die Straße oder den Fluss, die wir entlanggingen, die Wand oder Waldung, die uns umgab, die Ziffer, bei der die Uhrzeiger angekommen waren, die Richtung, in der die Schwingen des Windes flogen, Gestalt und Farbe des Mondes.

Ich weiß, auf alles, was ich Dir sage, gibt es eine gemeinsame Antwort, nämlich, dass Du mich liebtest: dass Du mich diese zweieinhalb Jahre hindurch, als die Parzen die Fäden unserer beiden Leben zu einem scharlachroten Muster verwoben, wirklich geliebt hast. Ja: ich weiß, dass Du mich liebtest. Wie immer Du Dich mir gegenüber benahmst, ich fühlte stets, dass Du mich im Grunde Deines Herzens liebtest. Ich sah wohl, dass meine Stellung in der Welt der Kunst, das Interesse, das meine Person immer und überall erregte, mein Geld, der Luxus, in dem ich lebte, die tausend und ein Dinge, die zusammen ein so zauberhaft und wunderbar unwahrscheinliches Leben wie das meine ausmachten, jedes für sich und alle zusammen Elemente waren, die Dich faszinierten und zu mir hinzogen: und doch war da noch mehr, ein weiterer seltsamer Anziehungspunkt für Dich: Du hast mich weit mehr geliebt als irgendeinen anderen Menschen. Doch auch Dein Leben birgt, genau wie meines, eine schreckliche Tragödie, wenn auch von gänzlich entgegengesetzter Art. Soll ich Dir sagen, welche? Ich sage es Dir. In Dir war der Hass stets stärker als die Liebe, Dein Hass auf den Vater war so groß, dass er Deine Liebe zu mir weit übertraf, überwog, überragte. Es kam zwischen ihnen gar nicht oder kaum zum Kampf; so abgrundtief war Dein Hass und so riesengroß. Du machtest Dir nicht klar, dass eine Seele nicht Raum hat für beide Leidenschaften. Sie können in dem reichgeschnitzten Schrein nicht zusammen hausen. Die Liebe nährt sich von der Phantasie, die uns weiser macht, als wir wissen, besser, als wir fühlen, edler, als wir sind: durch die wir das Leben als Einheit sehen können: durch die, und durch die allein, wir andere in ihren realen und ideellen Bindungen verstehen können. Nur Schönes und schön Erdachtes kann die Liebe nähren. Den Hass aber nährt alles. Kein Glas Champagner, das Du in all den Jahren trankst, kein üppiges Gericht, von dem Du aßest, das nicht Deinen Hass genährt und gemästet hätte. Um ihn zu sättigen, verspieltest Du mein Leben, wie Du mein Geld verspieltest, sorglos, achtlos, gleichgültig gegen die Folgen. Solltest Du verlieren, so hattest nicht Du den Verlust zu tragen, meintest Du. Solltest Du gewinnen, dann gehörten Dir, das wusstest Du, der Triumph und die Früchte des Sieges.

Hass macht die Menschen blind. Das merktest Du nicht. Liebe kann die Inschrift auf dem fernsten Stern entziffern, doch der Hass blendete Dich so sehr, dass Du über den engen, ummauerten und wollustwelken Garten Deiner niederen Gelüste nicht hinaussahst. Deine schreckliche Phantasielosigkeit, Dein einziger wirklich fataler Charakterfehler, war ausschließlich die Folge des Hasses, der in Dir lebte. Listig, lautlos, langsam nagte der Hass an Deinem Wesen – so wie die Flechte an der Wurzel einer fahlen Pflanze zehrt -, bis Du nur noch den dürftigsten Eigennutz und die schäbigsten Ziele wahrnehmen konntest. Die Fähigkeiten, die von der Liebe gediehen wären, vergiftete und lähmte in Dir der Hass. Seine ersten Angriffe richtete Dein Vater gegen mich als Deinen persönlichen Freund, und zwar in einem persönlichen Brief an Dich. Sobald ich diesen Brief mit seinen obszönen Drohungen und plumpen Ausfällen gelesen hatte, sah ich eine schreckliche Gefahr am Horizont meiner unruhigen Tage aufsteigen: ich sagte Dir, ich wolle nicht für Euch beide den Prügelknaben abgeben, an dem ihr Euren alten Hass austoben könntet: dass ich in London für ihn natürlich eine fettere Beute sei als ein Außenminister in Bad Homburg”: dass es unfair gegen mich wäre, mich auch nur einen Augenblick lang in eine derartige Lage zu bringen: und dass ich mit meinem Leben Besseres vorhätte, als mich mit einem Trunkenbold, déclassé und Halbirren wie ihm herumzuschlagen. Du wolltest das nicht einsehen. Der Hass blendete Dich. Du beharrtest auf der Ansicht, dass der Zwist überhaupt nichts mit mir zu tun habe: dass Du Dir von Deinem Vater Deine Freundschaften nicht vorschreiben lassen wolltest: dass es höchst unfair von mir wäre, mich einzumischen. Ohne mich zu fragen, schicktest Du an Deinen Vater ein albernes und ordinäres Telegramm12. Damit warst Du natürlich auch im folgenden auf ein albernes und ordinäres Vorgehen festgelegt. Die verhängnisvollen Irrtümer des Lebens entspringen nicht der menschlichen Unvernunft: ein unvernünftiger Augenblick kann der schönste Augenblick unseres Lebens sein. Sie entspringen der menschlichen Logik. Das ist ein gewaltiger Unterschied. Dieses Telegramm bestimmte Dein ganzes ferneres Verhältnis zu Deinem Vater und folglich auch mein ganzes Leben. Und das Groteske daran ist, dass es sich um ein Telegramm handelte, dessen der gewöhnlichste Gassenjunge sich geschämt hätte. Die natürliche Entwicklung führte von flegelhaften Telegrammen zu arroganten Anwaltsbriefen, und die Briefe Deines Anwalts hatten weitere Schritte Deines Vaters zur Folge. Er musste immer weitergehen, Du ließest ihm keine andere Wahl. Du zwangst es ihm als Ehrensache, oder besser gesagt als Unehrensache auf, damit Deine Herausforderung desto mehr wirken sollte. Also attackiert er mich das nächste Mal nicht mehr in einem persönlichen Brief und als Deinen persönlichen Freund, sondern in der Öffentlichkeit und als einen Mann der Öffentlichkeit. Ich muss ihn aus meinem Hause jagen. Er geht von einem Restaurant zum anderen und sucht mich, um mich vor aller Welt zu beschimpfen, und zwar in einer solchen Art und Weise, dass ich erledigt war, wenn ich es ihm heimzahlte, und wenn ich es ihm nicht heimzahlte, ebenfalls erledigt war. Das war zweifellos der Zeitpunkt, an dem Du hättest einschreiten und erklären müssen, Du wollest mich nicht um Deinetwillen derart widerlichen Angriffen und infamen Belästigungen aussetzen, sondern lieber unverzüglich jeden Anspruch auf meine Freundschaft aufgeben. Heute weißt Du es vermutlich selbst. Damals jedoch kamst Du gar nicht auf diese Idee. Der Hass blendete Dich. Du kamst lediglich auf den Gedanken (abgesehen davon natürlich, dass Du Deinem Vater beleidigende Briefe und Telegramme schicktest), Dir eine lächerliche Pistole zu kaufen, die im Berkeley losgeht und auf Grund der besonderen Begleitumstände einen Skandal auslöst, der Dir im vollen Ausmaß nie zu Ohren kam. Ja, Du warst offenbar sogar entzückt darüber, Gegenstand einer schrecklichen Auseinandersetzung zwischen Deinem Vater und einem Mann meiner Stellung zu sein. Ich darf wohl annehmen, dass es Deiner Eitelkeit Guttat und Deinem Dünkel schmeichelte. Deinem Vater Deine leibliche Existenz zu überlassen, die mich nicht interessierte, und mir Deine Seele, die ihn nicht interessierte, wäre für Dich eine deprimierende Lösung des Falles gewesen. Du hattest die Möglichkeit eines öffentlichen Skandals gewittert und stürztest Dich darauf. Die Aussicht auf einen Kampf, in dem Du nichts riskieren würdest, entzückte Dich. Ich erinnere mich, Dich nie besserer Stimmung gesehen zu haben als zu Ende dieses Sommers. Du schienst nur ein wenig darüber enttäuscht zu sein, dass nichts wirklich passierte und dass es zwischen uns zu keinem weiteren Treffen oder Krawall kam. Du tröstetest Dich mit der Absendung derart beleidigender Telegramme, dass der erbärmliche Mensch Dir schließlich schrieb, er habe seinen Dienstboten befohlen, ihm unter keinem Vorwand auch nur irgendein Telegramm auszuhändigen. Du gabst Dich nicht geschlagen. Du sahst die ungeheuren Möglichkeiten, die eine offene Postkarte bietet, und machtest bedeutete, die große Dominante, durch die ich mich erst mir selbst und dann der ganzen Welt zu Bewusstsein brachte; die wahre Passion meines Lebens; die Liebe, neben der jede andere Liebe war wie Sumpfwasser neben rotem Wein, wie der Leuchtkäfer im Sumpf neben dem Zauberspiegel des Mondes. Verstehst Du denn jetzt, dass Deine Phantasielosigkeit Deinen wahrhaft fatalen Charakterfehler darstellte? Was Du zu tun hattest, war ganz einfach und stand deutlich vor Dir, doch der Hass hatte Dich geblendet, und Du konntest nichts sehen. Ich konnte mich nicht bei Deinem Vater dafür entschuldigen, dass er mich fast neun Monate lang in der gemeinsten Weise beleidigt und belästigt hatte. Ich konnte Dich nicht aus meinem Leben verbannen. Immer wieder hatte ich es versucht. Ich hatte sogar England verlassen und war ins Ausland gereist in der Hoffnung, Dir zu entkommen. Alles vergebens. Du warst der einzige Mensch, der etwas hätte unternehmen können. Du allein besaßest den Schlüssel zu allem Geschehen. Es war Deine große Chance, Dich für all meine Liebe und Zuneigung, Freundlichkeit und Großzügigkeit und Rücksicht ein wenig erkenntlich zu zeigen. Hättest Du meinen Wert als Künstler auch nur zu einem Zehntel zu schätzen gewusst, Du hättest es getan. Doch der Hass blendete Dich. Die Fähigkeit, »durch die und durch die allein wir andere in ihren realen und ideellen Bindungen verstehen können«13,war in Dir gestorben. Du dachtest nur noch daran, wie Du Deinen Vater ins Gefängnis bringen könntest. Ihn auf der »Arme-Sünderbank«, wie Du zu sagen pflegtest, zu sehen, war Dein einziges Bestreben. Der Ausdruck wurde zu einer der vielen scies Deiner Alltagsgespräche. Man bekam ihn bei jeder Mahlzeit serviert. Nun, Dein Wunsch ging in Erfüllung. Der Hass gewährte Dir bis ins kleinste alles, was Du verlangt hattest. Er war Dir ein milder Herr. Das ist er allen seinen Dienern. Zwei Tage lang saßest Du mit den Richtern auf der Estrade, und es war Dir eine Augenweide, Deinen Vater auf der Anklagebank des Obersten Kriminalgerichts zu sehen. Und am dritten Tag nahm ich seinen Platz ein. Was war geschehen? In dem widerlichen Spiel Eures gegenseitigen Hasses hattet Ihr um meine Seele gewürfelt, und zufällig hattest Du verloren. Weiter nichts.

Du siehst, dass ich Dir Dein Leben beschreiben muss und dass Du es geistig erfassen musst. Wir kennen einander nun seit über vier Jahren. Die Hälfte dieser Zeit haben wir zusammen verbracht: die andere Hälfte musste ich im Kerker zubringen, wohin diese Freundschaft mich gebracht hat. Wo dieser Brief Dich erreichen wird, wenn er Dich überhaupt erreicht, weiß ich nicht. In Rom, Neapel, Paris, Venedig, in irgendeiner schönen Stadt am Meer oder an einem Fluss hältst Du Dich zweifellos auf. Wenn Dich vielleicht auch nicht der verschwenderische Luxus umgibt, den ich Dir geboten habe, so doch wohl alles, was Auge, Ohr und Geschmack ergötzt. Du führst ein recht schönes Leben. Und doch, wenn Du klug bist und das Leben noch weit schöner finden möchtest, und schön in einem anderen Sinne, dann wirst Du bei der Lektüre dieses schrecklichen Briefes – ich weiß, dass er schrecklich ist dasselbe Gefühl einer entscheidenden Krisis und eines wichtigen Wendepunkts haben, das ich bei seiner Niederschrift habe. Dein blasses Gesicht haben Wein und Freude immer schnell gerötet. Wenn es bei der Lektüre dieser Zeilen von Zeit zu Zeit vor Scham entbrennt wie in der Glut des Schmelzwerks, dann freue Dich. Das schlimmste Laster ist die Seichtheit. Alles ist gut, was man geistig erfasst hat.

Hiermit wäre ich beim Untersuchungsgefängnis angelangt, nicht wahr? Nach einer Nacht in der Polizeizelle werde ich im Gefangenenwagen hingebracht. Du warst sehr aufmerksam und freundlich. Wenn auch nicht gerade jeden, so doch beinahe jeden Nachmittag vor Deiner Abreise ins Ausland nahmst Du Dir die Mühe, nach Holloway zu fahren und mich zu besuchen. Du schriebst auch die reizendsten und freundlichsten Briefe. Doch dass nicht Dein Vater mich ins Gefängnis gebracht hatte, sondern Du selbst es warst, dass Du von Anfang bis Ende die Verantwortung dafür trugst, dass ich durch Dich, für Dich und Deinetwegen dort war, kam Dir auch nicht einen Augenblick in den Sinn. Nicht einmal das Schauspiel, das sich Dir bot, als ich hinter den Stäben eines hölzernen Käfigs saß, vermochte Deine tote Phantasie zu beleben. Du brachtest soviel Sympathie und Sentiment auf wie der Zuschauer bei einem Rührstück. dass Du selbst der Urheber der entsetzlichen Tragödie warst, merktest Du nicht. Ich sah, dass Du Dir nicht im geringsten klarmachtest, was Du angerichtet hattest. Nicht ich wollte Dir sagen, was Dein Herz Dir hätte sagen sollen und was es Dir auch gesagt hätte, wenn der Hass es nicht hätte verhärten und abstumpfen dürfen. Alle Erkenntnis muss aus einem selbst kommen. Es ist sinnlos, einem Menschen etwas zu sagen, was er nicht selbst empfindet, nicht verstehen kann. Wenn ich Dir jetzt dennoch diesen Brief schreibe, so weil Dein Schweigen und Dein Verhalten während meiner langen Gefangenschaft es nötig machten. Zudem hatte, wie sich herausstellte, der Vernichtungsschlag nur mich allein getroffen. Das war mir eine Quelle des Trostes. Aus vielen Gründen fand ich mich mit meinem Leiden ab, obgleich meine Augen, wenn sie Dir folgten, in Deiner völligen und vorsätzlichen Blindheit etwas nicht wenig Verächtliches sahen. Ich erinnere mich, wie Du voll Stolz einen Brief hervorzogst, den Du in einem Groschenblatt über mich veröffentlicht hattest. Es war ein sehr vorsichtiges, mäßiges, ja banales Produkt. Du appelliertest an den »englischen Sinn für fair play«, oder sonst etwas in dieser traurigen Kategorie, zugunsten »eines Mannes, der am Boden lag«. Es war die Art Brief, die Du hättest schreiben können, wenn eine peinliche Anklage gegen irgendeinen Dir persönlich ganz unbekannten Ehrenmann erhoben worden wäre. Aber Du fandest den Brief wundervoll. Du betrachtetest ihn als Beweis einer fast Quijotehaften Ritterlichkeit. Ich weiß, dass Du weitere Briefe an weitere Zeitungen schriebst, die sie aber nicht veröffentlichten. Darin stand jedoch nur, dass Du Deinen Vater hasstest. Und das interessierte keinen Menschen. Der Hass ist, das musst Du erst noch lernen, intellektuell betrachtet, die Ewige Verneinung. Vom Standpunkt der Emotionen aus betrachtet, ist er eine Art Auszehrung, die alles tötet, nur nicht sich selbst. An Zeitungen zu schreiben, dass man irgend jemanden hasse, ist das gleiche, wie wenn man an Zeitungen schriebe, dass man an einer unaussprechlichen, peinlichen Krankheit leide: dass der Mann, den Du hasstest, Dein eigener Vater war und dass er dieses Gefühl von ganzem Herzen erwiderte, veredelte oder verschönte Deinen Hass in keiner Weise. Es kennzeichnete ihn lediglich als Erbübel.

Weiter erinnere ich mich, dass ich, als über mein Haus die Zwangsversteigerung verhängt wurde, meine Bücher und Möbel beschlagnahmt und zum Verkauf ausgeschrieben wurden und der Bankrott drohte, Dir natürlich darüber schrieb. Ich erwähnte mit keinem Wort, dass das Haus, dessen Gastfreundschaft Du so oft genossen hattest, unter den Hammer kam, damit ein paar Geschenke bezahlt werden konnten, die ich Dir gemacht hatte. Ich dachte, zu recht oder zu unrecht, dass diese Eröffnung Dich vielleicht ein wenig schmerzen würde. Ich schrieb Dir nur die nackten Tatsachen. Ich fand es korrekt, Dir davon Mitteilung zu machen. Du antwortetest aus Boulogne mit einem Erguss fast lyrischen Frohlockens. Du schriebst, dass Dein Vater »knapp bei Kasse« sei und £ 1500 für die Gerichtskosten habe borgen müssen und dass mein bevorstehender Bankrott eine »köstliche Schlappe« für ihn sei, denn nun könne er sich wegen seiner Spesen nicht mehr an mich halten! Ist Dir jetzt klargeworden, warum man sagt, der Hass mache blind? Siehst Du jetzt ein, dass meine Beschreibung des Hasses als einer Auszehrung, die alles zerstört, nur nicht sich selbst, die wissenschaftliche Beschreibung einer bestehenden psychologischen Tatsache war? dass alle meine hübschen Besitztümer verkauft werden sollten: meine Zeichnungen von Burne-Jones, von Whistler, mein Monticelli: meine Simeon Solomons: mein Porzellan: meine Bibliothek mit ihrer Sammlung von dedizierten Exemplaren nahezu aller Dichter meiner Zeit von Hugo bis Whitman, von Swinburne bis Mallarmé, von Morris bis Verlaine; mit den schön gebundenen Ausgaben der Werke meines Vaters und meiner Mutter; ihrem wundervollen Aufgebot von Universitäts- und Schulpreisen, ihren éditions de luxe und dergleichen mehr; das alles sagte Dir absolut nichts. Du bezeichnetest es als lästig: weiter nichts. Du sahst in dem Ganzen nur die Möglichkeit, dass Dein Vater schließlich ein paar hundert Pfund einbüßen würde, und diese erbärmliche Erwägung erfüllte Dich mit ekstatischer Freude. Was die Gerichtskosten anlangt, so interessiert es Dich vielleicht, dass Dein Vater im Orleans Club ganz offen erklärte, selbst wenn der Prozess ihn £ 20000 gekostet hätte, so fände er, er habe sein Geld gut angelegt, denn die ganze Sache sei für ihn ein großartiger Zeitvertreib, Genuss und Triumph gewesen. dass er mich nicht nur für zwei Jahre ins Gefängnis bringen, sondern mich auch noch für einen Tag herausholen und in aller Öffentlichkeit zum Bankrotteur erklären lassen konnte, war eine zusätzliche Würze seines Genusses, die er nicht erwartet hatte. Es war der Gipfel meiner Demütigung und die Krönung seines Sieges. Wäre dieser Kostenanspruch Deines Vaters an mich nicht gewesen, so hättest Du, wie ich sehr wohl weiß, zumindest in Worten größten Anteil an dem Verlust meiner Bibliothek genommen, für einen Literaten ein unersetzlicher Verlust, die traurigste aller meiner materiellen Einbußen. Eingedenk der Summen, die ich mit vollen Händen für Dich verschleudert hatte, und des Lebens, das Du Jahrelang auf meine Kosten geführt hattest, wärst Du vielleicht sogar so weit gegangen, einige meiner Bücher für mich zu ersteigern. Die besten gingen für insgesamt nicht ganz £ 150 weg: etwa soviel, wie ich in einer normalen Woche für Dich ausgegeben habe. Doch die hämische Schadenfreude darüber, dass Dein Vater ein paar Pence zusetzen würde, verdrängte in Dir jeden Wunsch, mir einen kleinen Gegendienst zu erweisen, der ebenso geringfügig, leicht, billig und naheliegend für Dich wie wichtig und hochwillkommen für mich gewesen wäre. Stimmst Du mir zu, dass der Hass die Menschen blind macht? Siehst Du es jetzt ein? Wenn nicht, dann versuche es wenigstens.

Wie klar ich es damals sah und heute sehe, brauche ich Dir nicht zu sagen. Doch ich sagte mir: »Um jeden Preis muss ich in meinem Herzen die Liebe bewahren. Wenn ich ins Gefängnis gehe ohne Liebe, was soll aus meiner Seele werden?« Die Briefe, die ich Dir damals aus Holloway schrieb, waren meine Versuche, meinem Wesen die Liebe als Dominante zu erhalten. Es wäre mir ein leichtes gewesen, Dich mit bitteren Vorwürfen zu zermalmen. Ich hätte Dich mit meinem Fluch zerschmettern können. Ich hätte Dir einen Spiegel vorhalten und Dir ein Bild zeigen können, das Du nur dadurch als Dein eigenes erkannt hättest, dass es dieselben Gebärden des Abscheus ausführte wie Du; dann hättest Du gewusst, wessen Gestalt es wiedergab und Dein Bild und Dich selbst auf ewig gehasst. ja, mehr noch. Die Sünden eines anderen wurden mir zur Last gelegt. Wenn ich gewollt hätte, ich hätte mich bei jeder Verhandlung auf seine Kosten retten können, wenn auch nicht vor der Schande, so doch vor dem Kerker. Hätte ich den Beweis antreten wollen, dass den Kronzeugen – den drei wichtigsten – von Deinem Vater und Deinen Anwälten sorgfältig eingetrichtert worden war, nicht nur was sie verschweigen, sondern auch was sie aussagen, wie sie nach genau ausgehecktem und geprobtem Plan die Handlungen und Taten eines anderen buchstäblich mir in die Schuhe schieben sollten, so hätte ich erreichen können, dass der Richter sie allesamt noch weit prompter aus dem Zeugenstand gewiesen hätte als den meineidigen Lumpen Atkins14. Ich hätte mir ins Fäustchen lachen und, die Hände in den Taschen, als freier Mann den Gerichtssaal verlassen können. Man wollte mich förmlich dazu zwingen. Ich wurde ernstlich dazu aufgefordert, gedrängt, genötigt von Leuten, denen es einzig um mein Wohl und das Wohl meiner Familie ging. Aber ich weigerte mich. Ich wollte nicht. Ich habe meinen Entschluss nie auch nur einen Augenblick lang bereut, auch nicht in den bittersten Zeiten meiner Kerkerhaft. Ein solches Vorgehen wäre unter meiner Würde gewesen. Die Sünden des Fleisches bedeuten nichts. Sie sind Krankheiten, die der Arzt hellen soll, wenn sie überhaupt geheilt werden müssen. Allein die Sünden der Seele sind beschämend. Ein Freispruch, den ich mir durch solche Mittel erwirkt hätte, hätte lebenslängliche Folter für mich bedeutet. Doch glaubst Du wirklich, dass Du die Liebe wert gewesen bist, die ich Dir damals bewies, oder dass ich Dich auch nur einen Augenblick lang ihrer für würdig hielt? Glaubst Du wirklich, dass Du zu irgendeiner Zeit unserer Freundschaft der Liebe würdig warst, die ich Dir zeigte, oder dass ich Dich auch nur einen Augenblick lang ihrer würdig gehalten hätte? Ich wusste, dass Du sie nicht verdientest. Doch die Liebe feilscht nicht auf dem Markte und rechnet nicht nach der Krämerwaage. Ihre Freude besteht wie die Freuden des Intellekts darin, dass sie sich lebendig weiß. Das Ziel der Liebe ist zu lieben: nicht mehr und nicht weniger. Du warst mein Feind: ein Feind, wie kein Mensch ihn je gehabt hat. Ich hatte Dir mein Leben geschenkt, und um die niedrigsten aller menschlichen Leidenschaften zu befriedigen, Hass, Eitelkeit und Gier, warfst Du es weg. In weniger als drei Jahren hattest Du mich in jeder Hinsicht völlig ruiniert. Um meiner selbst willen blieb mir nichts anderes übrig als Dich zu lieben. Ich wusste, wenn ich mich zum Hass gegen Dich hinreißen ließe, würde in der dürren Wüste des Daseins, die ich durchqueren musste und noch durchquere, jeder Fels seinen Schatten verlieren, jede Palme verwelkt und jede Wasserstelle an der Quelle vergiftet sein. Beginnst Du jetzt zu verstehen? Erwacht Deine Phantasie aus ihrer langen Lethargie? Du weißt, was der Hass ist. Dämmert Dir nun, was die Liebe, was das Wesen der Liebe ist? Noch hast Du Zeit, es zu lernen, ich aber musste in die Sträflingszelle ziehen, um es Dich lehren zu können.

Nach meiner Verurteilung, als ich Gefängniskleidung trug, das Gefängnistor sich hinter mir geschlossen hatte, saß ich auf den Trümmern meines wundervollen Lebens, von Angst zermalmt, von Grauen geschüttelt, von Schmerz betäubt. Doch ich wollte Dich nicht hassen. Tag für Tag sagte ich mir:»Heute muss ich meinem Herzen die Liebe erhalten, wie soll ich sonst den Tag überstehen? «, Ich sagte mir immer wieder, dass Du nichts Böses im Sinn hattest, jedenfalls nicht gegen mich: ich redete mir ein, Du habest von ungefähr den Bogen gespannt und mit Deinem Pfeil einen König zwischen Panzer und Wehrgehänge getroffen15. Dich abzuwägen gegen das kleinste meiner Leiden, den geringsten meiner Verluste hätte ich als unfair empfunden. Ich beschloss, auch in Dir einen Leidenden zu sehen. Ich zwang mich zu dem Glauben, dass Dir endlich die Schuppen von den lange verblendeten Augen gefallen seien. Immer wieder stellte ich mir voll Schmerz das Grauen vor, das Dich angesichts Deines schrecklichen Werkes erfasst haben musste. Sogar in diesen dunklen Tagen, den dunkelsten meines Lebens, überkam mich zuzeiten wirklich das Verlangen, Dich zu trösten. So sicher war ich, dass Du endlich wusstest, was Du getan hattest.

Nie wäre ich damals auf den Gedanken gekommen, Du könntest mit dem abscheulichsten aller Laster behaftet sein, der Seichtheit. ja, ich war aufrichtig bekümmert, als ich Dir mitteilen musste, dass der erste Brief, den ich hier in Empfang nehmen dürfe, meinen Familienangelegenheiten vorbehalten sein müsse: aber mein Schwager hatte mir geschrieben, wenn ich nur ein einziges Mal an meine Frau schriebe, so wolle sie, um meinet- und unserer Kinder willen, nicht auf Ehescheidung klagen. Ich hielt es für meine Pflicht, das zu tun. Von sonstigen Gründen abgesehen, konnte ich den Gedanken nicht ertragen, von Cyril getrennt zu werden, meinem schönen, liebevollen und liebenswerten Kind, diesem Freund aller Freunde, Gefährten aller Gefährten; ein einziges Haar seines Goldköpfchens hätte mir teuerer und wertvoller sein sollen als, ich will nicht sagen Du vom Scheitel bis zur Sohle, aber doch als aller Chrysolith der ganzen Welt16: war es mir auch immer gewesen, nur begriff ich es erst, als es zu spät war.

Zwei Wochen nach Deinem Gesuch höre ich von Dir. Robert Sherard, dieser tapferste und ritterlichste aller Prachtmenschen, besucht mich und erzählt mir unter anderem, Du wollest in diesem lächerlichen Mercure de France, der sich Absurderweise damit brüstet, das eigentliche Zentrum der literarischen Korruption zu sein, einen Artikel über mich, mit Auszügen aus meinen Briefen, veröffentlichen. Er fragt mich, ob das wirklich meinem Wunsch entspreche. Ich war tief bestürzt und sehr ärgerlich und gab Auftrag, die Sache sofort niederzuschlagen. Du hast meine Briefe herumliegen lassen, so dass sie von Deinen Erpresserfreunden gestohlen, von Hausknechten entwendet, von Zimmermädchen verkauft werden konnten. Das war einfach Deine gedankenlose Geringschätzung dessen, was ich Dir geschrieben hatte. Doch dass Du allen Ernstes vorhaben solltest, Auszüge aus dem Restbestand zu veröffentlichen, konnte ich kaum glauben. Und um welche Briefe mochte es sich handeln? Ich konnte nichts erfahren. Das also war das erste, was ich von Dir hörte. Ich hörte es ungern.

Die zweite Nachricht folgte wenig später. Die Anwälte Deines Vaters waren im Gefängnis erschienen, um mir persönlich den Gerichtsbeschluss zuzustellen, wonach wegen lumpiger £ 700, ihres Gebührenanspruchs, das Konkursverfahren gegen mich eröffnet werden sollte. Ich wurde zum zahlungsunfähigen Schuldner erklärt und vor Gericht geladen. Ich war entschieden der Meinung, und bin es noch und werde auch noch darauf zurückkommen, dass diese Kosten von Deiner Familie hätten bezahlt werden müssen. Du hattest persönlich dafür eingestanden, dass Deine Familie sie übernehmen würde. Unter diesen Voraussetzungen hatte der Anwalt den Fall so übernommen, wie er ihn auch vertreten hat. Du warst entschieden verantwortlich. Selbst unabhängig von der Zusage, die Du im Namen Deiner Angehörigen gegeben hattest, hättest Du, als der Urheber meines Unglücks, mir wenigstens die zusätzliche Schmach eines Bankrotts wegen einer absolut lächerlichen Summe ersparen sollen, einer Summe, die halb so groß war wie der Betrag, den ich während der drei kurzen Sommermonate in Goring für Dich ausgab. Doch davon nun nichts weiter. Es stimmt, dass ich durch den Schreiber des Anwalts in dieser Sache oder zumindest im Zusammenhang damit eine Botschaft von Dir erhalten habe. Als er mich aufsuchte, um meine Erklärungen und Angaben entgegenzunehmen, beugte er sich über den Tisch – denn der Wärter war zugegen – und sagte, nachdem er ein Stück Papier aus seiner Tasche gezogen und studiert hatte, mit leiser Stimme: »Prinz Fleur-de-Lys17 lässt Sie grüßen.« Ich starrte ihn an. Er wiederholte die Botschaft. Ich wusste nicht, was er meinte. »Der Herr befindet sich zur Zeit im Ausland«, fügte er geheimnisvoll hinzu. jetzt begriff ich blitzartig, und ich erinnere mich, dass ich zum ersten und letzten Male während meiner ganzen Gefangenschaft lachte. Dieses Lachen enthielt alle Verachtung der Welt. In diesem Lachen lag aller Hohn der Welt. Prinz Fleur-de-Lys! Ich sah – und die folgenden Ereignisse bewiesen mir, dass ich richtig sah -, dass Du von allem, was geschehen war, nicht das mindeste begriffen hattest. In Deinen eigenen Augen warst Du noch immer der schöne Prinz einer trivialen Komödie, nicht die düstere Figur eines tragischen Schauspiels. Alles Geschehene war bloß eine Feder für das Barett, das einen beschränkten Kopf ziert, eine Ansteckblume für das Wams, unter dem ein Herz schlägt, das nur der Hass allein erwärmt und das allein die Liebe eisig findet. Prinz Fleur-de-Lys! Gewiss hattest Du ganz recht, unter einem Decknamen mit mir in Verbindung zu treten. Ich selbst hatte zu jener Zeit überhaupt keinen Namen. In dem großen Gefängnis, in dem ich damals eingekerkert war, war ich nur die Nummer und der Buchstabe einer kleinen Zelle an einem langen Gang, eine von tausend leblosen Chiffren, eines von tausend leblosen Leben. Doch gewiss hätten sich viele echte Namen in der wirklichen Geschichte gefunden, die besser zu Dir gepasst hätten und an denen ich Dich unschwer sofort erkannt hätte. Hinter dem Flitter eines Fastnachtsvisiers, wie man es nur zur kurzweiligen Maskerade trägt, suchte ich Dich nicht. Ach! wäre Deine Seele nur, wie es zu ihrer Rettung nötig gewesen wäre, vom Leid verwundet, von Reue gebeugt und demütig gewesen vor Gram, dann hätte sie eine andere Maske gewählt, um unter ihrem Schutz in das Schmerzenshaus Einlass zu suchen! Die großen Dinge im Leben sind das, was sie zu sein scheinen, und gerade darum, so seltsam es Dir klingen mag, oft schwer zu deuten. Doch die kleinen Dinge des Lebens sind Symbole. Die bitteren Lehren unseres Lebens erhalten wir meistens durch sie. Deine scheinbar zufällige Wahl eines Decknamens war und bleibt symbolisch. Sie zeigt Dich, wie Du wirklich bist.

Sechs Wochen später trifft zum drittenmal Nachricht ein. Man ruft mich aus dem Krankenrevier, wo ich elend darniederlag, um mir durch den Gefängnisdirektor eine besondere Botschaft von Dir zu übermitteln. Er liest mir einen Brief vor, den Du an ihn gerichtet hattest und in dem Du schriebst, dass Du im Mercure de France (»einer Zeitschrift«, so fügtest du aus irgendeinem besonderen Grund hinzu, »die unserer englischen Fortnightly Reviewentspricht«) einen Artikel »über den Fall Oscar Wilde« veröffentlichen wollest, und um meine Zustimmung nachsuchtest, Auszüge und Stellen aus – welchen? – Briefen zu veröffentlichen. Aus den Briefen, die ich Dir aus dem Gefängnis von Holloway geschrieben hatte! Den Briefen, die Dir heiliger und unveräußerlicher hätten sein sollen als alles in der Welt! Und ausgerechnet diese Briefe wolltest Du veröffentlichen, damit der abgetakelte décadentetwas zu bestaunen, der geile feuilletoniste etwas zu besabbern, die kleinen Löwen des Quartier Latin etwas zu beglotzen und zu bekläffen hätten! Wenn schon Dein eigenes Herz nicht gegen eine so vulgäre Entweihung aufschrie, so hättest Du wenigstens an das Sonett denken können, das jener schrieb, der mit soviel Schmerz und Verachtung zusah, wie John Keats’ Briefe in London öffentlich versteigert wurden, hättest wenigstens die wahre Bedeutung meiner Verse begreifen sollen:

I think they love not Art
Who break the crystal of a poet’s heart
That small and sickly eyes may glare or gloat. 18

Der liebt die Kunst nicht, glaube ich,
Der den Kristall eines Dichterherzens zerschlägt,
Damit dürftige und kranke Augen etwas zu starren und zu glotzen haben.

Denn was sollte Dein Artikel beweisen? dass ich Dich zu sehr geliebt hatte? Dem Pariser gamin war dies ohnehin bekannt. Sie alle lesen die Zeitungen, und die meisten von ihnen schreiben für die Presse. dass ich ein Genie war? Die Franzosen verstanden das und die Besonderheit meines Genies weit besser, als Du es verstandest oder billigerweise verstehen konntest. dass Leidenschaften und Lüste beim Genie oft eigentümlich pervertiert sind? Vortrefflich: doch dies ist Lombrosos19 Thema, nicht Deines. Zudem tritt das betreffende pathologische Phänomen auch bei Menschen auf, die durchaus keine Genies sind. dass ich in Deinem Hassfeldzug gegen Deinen Vater euch beiden zugleich Schild und Schwert war? Mehr noch. dass er mich bei der scheußlichen Jagd um mein Leben, die einsetzte, als der Feldzug vorbei war, nie hätte einholen können, wenn Du nicht bereits die Schlingen für meine Füße gelegt hättest? Ganz richtig: aber wie ich höre, hat Henri Bauër das bereits eindeutig festgestellt.20 Und um seine Ansicht zu erhärten, falls das Deine Absicht gewesen sein sollte, brauchtest Du meine Briefe nicht zu veröffentlichen; jedenfalls nicht die Briefe, die ich aus Holloway schrieb.

Willst Du mir auf meine Frage erwidern, ich selbst hätte Dich in einem meiner Briefe aus Holloway gebeten, Du möchtest mich nach Deinen Kräften vor einem kleinen Teil der Welt ein wenig mehr ins rechte Licht rücken? ja, das tat ich. Bedenke, in welchem Zustand und warum ich heute hier bin. Glaubst Du, ich sei hier wegen meiner Beziehungen zu den Zeugen in meinem Prozess? Meine wirklichen oder mutmaßlichen Beziehungen zu Leuten dieser Art interessierten weder die Regierung noch die Gesellschaft. Sie wussten nichts davon und scherten sich noch weniger darum. Ich bin hier, weil ich versucht habe, Deinen Vater ins Gefängnis zu bringen. Mein Versuch musste fehlschlagen. Meine eigenen Anwälte gaben auf. Dein Vater drehte den Spieß um und brachte mich ins Gefängnis, und da bin ich noch immer. Dafür verachtet man mich. Darum verhöhnt man mich. Darum muss ich meine schreckliche Haft bis zum letzten Tag, zur letzten Stunde, zur letzten Minute ableisten. Darum werden meine Gesuche verworfen.

Du allein hättest, und zwar ohne Dich in irgendeiner Weise der Verachtung oder Gefahr oder einem Tadel auszusetzen, der ganzen Angelegenheit eine andere Färbung geben, die Sache in ein anderes Licht rücken, bis zu einem gewissen Grad den wirklichen Stand der Dinge beweisen können. Selbstverständlich hätte ich nicht erwartet, nicht einmal gewünscht, dass Du aussagen solltest, wie und aus welchem Grund Du meinen Beistand suchtest, als Du in Oxford in Schwierigkeiten geraten warst: und wie oder aus welchem Grund, falls Du überhaupt einen Grund hattest, Du mir drei Jahre lang praktisch nicht mehr von der Seite gewichen warst. Meine ständigen Versuche, eine Freundschaft abzubrechen, die für mich als Künstler wie als einem Mann von Rang und sogar als einem Mitglied der guten Gesellschaft so verhängnisvoll war, brauchten nicht mit der Genauigkeit verzeichnet zu werden, mit der ich sie hier dargetan habe. Ich hätte auch nicht verlangt, dass Du die Szenen beschreiben solltest, die Du mit fast monotoner Regelmäßigkeit wiederholtest: oder dass Du die wundervolle Folge Deiner Telegramme an mich mit ihrer kuriosen Mischung aus Romanzen und Finanzen abdrucken ließest: oder dass Du die besonders empörenden und herzlosen Stellen aus Deinen Briefen zitiertest, wie ich es tun musste. Kurzum, ich meine, es wäre für Dich und für mich besser gewesen, wenn Du gegen die Auslegung protestiert hättest, die Dein Vater unserer Freundschaft gab, eine ebenso groteske wie giftige Auslegung und ebenso absurd, soweit sie Dich, wie entehrend, soweit sie mich betraf. Diese Auslegung ist nun in die Geschichte eingegangen: sie wird zitiert, geglaubt, aufgezeichnet: der Prediger benutzt sie als Text, der Moralist als Thema seiner trockenen Abhandlung: und ich, der zu allen Generationen sprechen konnte, musste mir von einem Affen und Hanswursten das Urteil sprechen lassen. Ich sagte in diesem Brief bereits, und wie ich zugebe mit einiger Erbitterung, dass die Ironie des Schicksals Deinen Vater zum unsterblichen Helden von Sonntagsschul-Traktätchen gemacht hat: Dich mit dem Knaben Samuel auf eine Stufe stellte: und mir den Platz zwischen Gilles de Retz und dem Marquis de Sade anwies. Ich behaupte, das ist gut so. Ich will nicht klagen. Eine der vielen Lehren, die das Gefängnis erteilt, lautet: die Dinge sind, was sie sind, und werden sein, was sie sein werden. Ich zweifle auch nicht, dass der von der Schwarzen Magie Zerfressene und der Autor derJustine angenehmere Nachbarn sind als Sandford and Merton.21

Doch als ich Dir damals schrieb, hielt ich es beider Interesse für gut, angemessen, richtig, die Darstellung nicht zu akzeptieren, die Dein Vater durch seine Anwälte zur Erbauung der Philister gegeben hatte, und deshalb bat ich Dich, eine der Wahrheit näher kommende Fassung zu entwerfen und niederzuschreiben. Auf jeden Fall wäre es für Dich besser gewesen als Deine für französische Zeitungen bestimmten Kritzeleien über das häusliche Leben Deiner Eltern. Was kümmerte es die Franzosen, ob Deine Eltern ein glückliches Familienleben geführt haben oder nicht? Ein für sie noch uninteressanteres Thema gibt es gar nicht. Dagegen interessiert es sie, wie ein Künstler meines Ranges, der durch die Schule und die literarische Bewegung, die er verkörperte, das französische Geistesleben entscheidend beeinflusst hatte, erst ein solches Leben und dann einen solchen Prozess hat führen können. Hättest Du zur Veröffentlichung in Deinem Artikel die – wie ich fürchte – zahllosen Briefe vorgeschlagen, in denen ich von dem Unheil sprach, das Du über mein Leben brachtest, von dem Wahnsinn der Wutausbrüche, denen Du Dich zu Deinem und zu meinem Schaden überließest, und von meinem Wunsch, nein, meinem Entschluss, eine für mich in jeder Hinsicht so verhängnisvolle Freundschaft zu beenden, dann hätte ich das verstanden, wenn ich auch eine Veröffentlichung dieser Briefe nicht gestattet hätte: als der Anwalt Deines Vaters in der Absicht, mich in einen Widerspruch zu verstricken, dem Gericht plötzlich einen Brief vorlegte, den ich Dir im März ‘ 9322 geschrieben hatte und worin ich sagte, ehe ich mich weiteren Wiederholungen der abstoßenden Szenen aussetzte, an denen Du offenbar so schrecklichen Gefallen fändest, würde ich mich damit abfinden, mich »von jedem >renter< in London erpressen zu lassen«23, da schmerzte es mich aufrichtig, dass damit dieser Aspekt meiner Freundschaft mit Dir dem gemeinen Blick enthüllt wurde: dass Du jedoch so begriffsstutzig, so stumpfsinnig und allem Seltenen, Erlesenen und Schönen so unzugänglich sein konntest, dass Du die Briefe zu veröffentlichen gedachtest, in denen und durch die ich versuchte, Geist und Seele der Liebe lebendig zu erhalten, damit sie in meinem Körper während der langen Jahre der Demütigung dieses Körpers wohnen bliebe – das war und ist noch heute für mich eine Quelle tiefsten Schmerzes, grausamster Enttäuschung. Warum Du es tatest, weiß ich wohl leider allzu gut. Wenn der Hass Deine Augen blendete, so nähte die Eitelkeit Deine Lider mit eisernen Fäden zusammen. Die Fähigkeit, »durch die und durch die allein man andere in ihren realen und ideellen Bindungen verstehen kann«24, hatte Dein bornierter Egoismus abgestumpft, sie war lahm geworden vom langen Brachliegen. Deine Phantasie war genauso eingekerkert wie ich es bin. Die Eitelkeit hatte die Fenster vergittert, und Wärter war der Hass!

Das alles ereignete sich Anfang November vorletzten Jahres. Ein breiter Strom Leben fließt zwischen Dir und einer so fernen Zeit. Über einen solchen Abstand hinweg reicht Dein Auge wohl schwerlich. Mir jedoch ist, als wäre es nicht gestern, sondern erst heute geschehen. Das Leiden ist ein einziger langer Augenblick. Wir können ihn nicht in Jahreszeiten aufteilen. Wir können nur seine Phasen festhalten und deren Wiederkehr verzeichnen. Die Zeit selbst schreitet für uns nicht fort. Sie rotiert. Sie scheint um die Achse des Schmerzes zu kreisen. Die lähmende Starrheit eines Lebens, das bis ins kleinste nach einer festen Schablone geregelt ist, so dass wir nach den unbeugsamen Gesetzen einer eisernen Formel essen und trinken und gehen und uns hinlegen und beten oder doch zum Gebet niederknien: diese Unbeweglichkeit, die jeden grauenvollen Tag bis ins kleinste Detail seinem Bruder gleichen lässt, scheint sich jenen äußeren Kräften mitzuteilen, die nur aus dem ständigen Wechsel leben können. Wir wissen nichts von Saatzeit und Ernte, vom Schnitter, der sich über das Korn neigt, noch vom Winzer, der sich durch den Weinberg müht, vom Gras unter den Bäumen, das weiß ist von abgefallenen Blüten oder bestreut mit reifen Früchten wir können nichts davon wissen. Für uns hier gibt es nur eine Jahreszeit, die Jahreszeit des Grams. Selbst Sonne und Mond scheinen uns verwehrt. Draußen mag der Tag blau sein und golden, das Licht, das durch das trübe Glas des Gitterfensterchens zu uns herunterkriecht, ist grau und karg. In der Zelle herrscht immer Dämmerung, in unseren Herzen Mitternacht. Und wie der Lauf der Zeit, so stockt auch der Lauf des Denkens. Was Du längst vergessen hast oder leicht vergessen kannst, stößt mir heute zu und wird mir morgen wieder zustoßen. Wenn Du das bedenkst, dann wirst Du eher verstehen können, warum ich Dir schreibe und warum ich so schreibe.

Eine Woche danach werde ich hierher gebracht. Drei weitere Monate vergehen, und meine Mutter stirbt. Niemand weiß besser als Du, wie innig ich meine Mutter geliebt und verehrt habe. Ihr Tod war für mich so furchtbar, dass ich, einst ein Meister der Sprache, keine Worte finde, meine Bedrängnis und Scham zu schildern. Niemals, nicht einmal auf dem Höhepunkt meiner künstlerischen Schaffenskraft, hätte ich Worte gefunden, die eine so erhabene Bürde hätten tragen oder mit angemessen hohem Klang über die purpurne Szene meines unsagbaren Wehs hätten schreiten können. Sie und mein Vater hatten mir einen Namen vererbt, dem sie nicht nur in Literatur, Kunst, Archäologie und Wissenschaft Ansehen und Geltung verschafft hatten, sondern auch in der Geschichte der Entwicklung meines Heimatlandes zur Nation. Diesen Namen habe ich auf ewig entehrt. Ich habe ihn zum gemeinen Schimpfwort gemeiner Leute gemacht. Ich habe ihn in den Schmutz gezerrt. Ich habe ihn den Schandmäulern ausgeliefert, damit sie ihn schänden, den Narren, damit sie daraus ein anderes Wort für Narrheit machen. Was ich damals litt und noch leide, kann keine Feder niederschreiben, kein Buch vermelden. Meine Frau, die in jenen Tagen gut und freundlich zu mir war und nicht wollte, dass ich die Nachricht von gleichgültigen oder fremden Lippen hören müsse, reiste trotz ihrer Krankheit von Genua bis hierher, um mir die Botschaft von dem unersetzlichen, unwiederbringlichen Verlust zu überbringen. Alle, die mich noch gern hatten, drückten mir ihr Beileid aus. Selbst Leute, die mich persönlich nicht kannten, jedoch von dem neuen Kummer gehört hatten, der mein zerbrochenes Leben heimgesucht hatte, baten brieflich, man möge mir ihre Teilnahme übermitteln. Du allein hieltest Dich abseits, schicktest mir kein Wort, schriebst mir keine Zelle. Zu solchem Verhalten kann man nur sagen, was Vergil zu Dante über die Seelen sagt, deren dumpfes Leben nie von edlen Antrieben entflammt worden ist, die Unentschiedenen, die Tatenlosen: »Non ragtoniam di lor, ma guarda, e passa. « 25

Drei Monate vergehen. Der Kalender draußen an meiner Zellentür, auf dem mein Name und mein Urteil stehen und auf dem täglich meine Führung und Arbeitsleistung eingetragen werden, sagt mir, dass es Mai ist. Wieder besuchen mich meine Freunde. Wie immer erkundige ich mich nach Dir. Man berichtet mir, Du seist in Deiner Villa in Neapel mit den Vorbereitungen zur Herausgabe eines Gedichtbandes beschäftigt. Am Schluss der Unterredung wird beiläufig erwähnt, Du werdest ihn mir widmen. Bei dieser Nachricht stieg Lebensekel in mir hoch. Ich sagte nichts, ging nur schweigend in meine Zelle zurück, Verachtung und Abscheu im Herzen. Wie konntest Du Dir träumen lassen, mir einen Gedichtband zu widmen, ohne zunächst meine Erlaubnis einzuholen? Träumen, sage ich? Wie konntest Du Dich unterstehen? Willst Du mir antworten, ich hätte in den Tagen meines Glanzes und Ruhms die Zueignung Deiner frühen Arbeit akzeptiert? Gewiss; genauso, wie ich die Huldigung eines jeden anderen jungen Mannes akzeptiert hätte, der sich der schweren und schönen Kunst des Schreibens widmen wollte. jede Huldigung ist köstlich für den Künstler, doppelt süß, wenn die Jugend sie darbringt. Lorbeer und Kränze welken, wenn eine greise Hand nach ihnen greift. Nur die Jugend hat das Recht, den Künstler zu krönen. Dies ist das wahre Vorrecht des Jungseins, wenn die Jugend es nur erkennen würde. Doch die Tage der Erniedrigung und der Schmach haben nichts gemein mit der Zeit des Ruhms und des Glanzes. Du musst erst noch lernen, dass Glück, Luxus und Erfolg grobmaschig in der Textur, billig in der Faser sein können, das Leid jedoch ist das allerzarteste Gespinst. Jede geringste Bewegung irgendwo in der Welt der Gedanken und Taten versetzt das Leid in schreckliche, wiewohl erlesene Schwingung. Wie plump sind dagegen die hauchdünnen Goldblättchen, deren Vibrieren Kraftströme anzeigt, die das Auge nicht wahrnehmen kann.26 Das Leid ist eine Wunde, die unter der Berührung einer fremden Hand zu bluten anfängt, ja selbst unter der Hand der Liebe von neuem aufbricht, wenn auch nicht schmerzt.

Du konntest dem Direktor des Gefängnisses von Wandsworth schreiben und meine Genehmigung zum Abdruck meiner Briefe im Mercure de France, »der unserer englischen Fortnightly Review entspricht«, einholen. Warum konntest Du nicht an den Direktor des Zuchthauses von Reading schreiben und anfragen, ob Du mir Deine Gedichte widmen dürftest, ganz gleich, was für eine phantastische Beschreibung Du für sie gewählt hättest? Tatest Du es deshalb nicht, weil ich im ersten Fall der Zeitschrift verboten hatte, meine Briefe zu veröffentlichen, deren Urheberrechte, wie Du natürlich sehr wohl weißt, ausschließlich bei mir lagen und liegen, und weil Du nun in diesem Fall dachtest, Du könntest eigenmächtig vorgehen und mir so lange nichts davon sagen, bis es zu spät wäre, noch einzugreifen? Allein dass ich ein entehrter, ruinierter Mann war und im Gefängnis saß, hätte Dir gebieten müssen, die Erlaubnis, meinen Namen auf die Titelseite Deines Werkes setzen zu dürfen, von mir als eine Gunst, eine Ehre, ein Privileg zu erbitten. Nur so sollte man an Menschen herantreten, die in Elend und Schande schmachten.

Wo das Leid herrscht, dort ist geweihte Erde. Eines Tages wirst Du begreifen, was das heißt. Bis dahin weißt Du nichts vom Leben. Als ich zwischen zwei Polizisten aus dem Zuchthaus zum Konkursgericht geführt wurde, wartete Robbie auf dem langen, düsteren Korridor, nur um im Angesicht einer Menge, die vor einer so freundlichen und schlichten Tat ehrfürchtig verstummte, ernst vor mir den Hut zu ziehen, als ich in Handschellen und gesenkten Hauptes an ihm vorüberging. Um geringerer Verdienste willen sind Menschen in den Himmel gekommen. In dem gleichen Geiste, in der gleichen Liebe knieten die Heiligen nieder, um den Armen die Füße zu waschen, beugten sich zur Wange des Aussätzigen, um sie zu küssen. Ich habe nie mit ihm darüber gesprochen. Ich weiß bis zum heutigen Tage nicht, ob er ahnt, dass ich es überhaupt bemerkt habe. Es ist unmöglich, dafür in förmlichen Worten einen förmlichen Dank auszusprechen. Ich bewahre es in der Schatzkammer meines Herzens. Ich betrachte es als eine heimliche Schuld und freue Mich, dass ich sie wohl nie werde begleichen können. In ihrer ganzen Lieblichkeit frisch erhalten durch Myrrhe und Cassia vieler Tränen. Als die Weisheit mir nichts nützte, die Philosophie mir nicht fruchtete, und die Sprüche und Reden derer, die mich zu trösten suchten, in meinem Munde wie Staub und Asche waren, da hat bei mir der Gedanke an diesen kleinen, demütigen, stummen Akt der Liebe bewirkt, dass alle Brunnen des Mitleids wieder flossen, dass die Wüste aufblühte wie eine Rose, dass ich aus der Bitternis meines einsamen Exils in die Harmonie mit dem wunden, gebrochenen und großen Herzen der Welt fand. Sobald Du nicht nur verstehst, wie schön Roberts Tat war, sondern auch warum sie mir soviel bedeutete und mir in aller Zukunft soviel bedeuten wird, wird Dir klar werden, wie und in welchem Geist Du mich um die Erlaubnis hättest bitten müssen, mir Deine Verse widmen zu dürfen.

Der Gerechtigkeit halber will ich zugeben, dass ich eine solche Widmung nicht zugelassen hätte. Wenn ich mich unter veränderten Umständen auch vielleicht über Deine Bitte gefreut hätte, so hätte ich sie Dir doch um Deinetwillen abgeschlagen, ohne Rücksicht auf meine eigenen Gefühle. Der erste Gedichtband, den ein junger Mensch im Frühling seiner Mannesjahre in die Welt schickt, soll wie eine Blüte oder eine Frühlingsblume sein, wie der Weißdorn auf der Wiese vom Magdalen oder die Primeln auf den Feldern von Cumnor. Er sollte nicht belastet werden mit dem Gewicht einer schrecklichen, empörenden Tragödie, eines schrecklichen, empörenden Skandals. Hätte ich einem solchen Buch meinen Namen als Herold vorangestellt, so wäre das ein schwerer künstlerischer Fehler gewesen. Die ganze Atmosphäre des Werkes wäre dadurch verfälscht worden, und in der modernen Kunst bedeutet die Atmosphäre so viel. Das moderne Leben ist komplex und relativ. Das sind seine beiden Grundtöne. Um den ersten wiederzugeben, brauchen wir die künstlerische Atmosphäre mit aller Feinheit der nuances, der Impressionen, der neuen Perspektiven: für das zweite brauchen wir einen Hintergrund. Deshalb gehört die Plastik heute nicht mehr zu den darstellenden Künsten; deshalb ist die Musik sehr wohl eine darstellende Kunst; und deshalb ist, war und bleibt die Literatur die höchste unter den darstellenden Künsten.

Dein Bändchen hätte die Luft Siziliens und Arkadiens atmen müssen, nicht den Pesthauch der Strafgerichte oder den dumpfen Brodem der Kerkerzelle. Zudem wäre eine Widmung, wie Du sie vorschlugst, nicht nur ein künstlerischer Fauxpas gewesen; auch in anderer Hinsicht wäre sie völlig unziemlich gewesen. Sie hätte den Eindruck erweckt, als wolltest Du nach meiner Verhaftung in Deiner früheren Haltung verharren. Das Publikum hätte darin einen Versuch törichter Prahlsucht gesehen: ein Beispiel für jene Art Mut, die in den Straßen der Schande billig verkauft und billig erstanden wird. In unserer Freundschaft hat die Nemesis uns beide wie Fliegen zerquetscht. Mir Verse zu widmen, während ich im Gefängnis saß, hätte wie der Versuch zu einer schlagfertigen Erwiderung gewirkt, eine Fähigkeit, auf die Du Dir in den alten Tagen Deiner schrecklichen Briefschreibe-Sucht – in Tagen, die hoffentlich zu Deinem eigenen Besten nicht wiederkehren werden – in aller Öffentlichkeit viel zugute tatest und mit der Du Dich so gern gebrüstet hast. Von der ernsthaften und schönen Wirkung, die Dir bestimmt – daran glaube ich fest – vorschwebte, wäre keine Rede gewesen. Hättest Du mich um Rat gefragt, so hätte ich Dir nahegelegt, mit der Veröffentlichung Deiner Verse noch ein wenig zu warten; oder sie, falls Du Dich dazu nicht bereitfinden könntest, zunächst anonym herauszubringen und erst dann, wenn Du Deinem Lied Freunde gewonnen hättest die einzige Art Freunde, deren Gewinnung die Mühe wert ist -, der Welt Dein Gesicht zu zeigen und ihr zu sagen: »Die Blumen, die ihr bewundert, habe ich gepflanzt, und nun bringe ich sie Einem dar, den ihr zum Paria und Ausgestoßenen gemacht habt, und sie sollen mein Tribut an alles das sein, was ich an ihm liebe, verehre und bewundere.« Doch Du hast den falschen Weg und die falsche Stunde gewählt. Es gibt einen Takt in der Liebe, wie es einen Takt in der Literatur gibt. Du hast sie beide verletzt.

Ich verbreite mich so ausführlich über diesen Punkt, weil ich möchte, dass Du seine ganze Tragweite erfasst, dass Du verstehst, warum ich sofort an Robbie schrieb und mich so ablehnend und geringschätzig über Dich äußerte, die Zueignung strikt untersagte und verlangte, er solle alles, was ich über Dich geschrieben hatte, genau abschreiben und Dir zuschicken. Nach meinem Dafürhalten war es höchste Zeit, Dir zu zeigen, klarzumachen, zu Bewusstsein zu bringen, was Du getan hattest. Man kann die Verblendung so weit treiben, dass sie grotesk wird, und eine phantasielose Natur, die durch nichts aufgerüttelt wird, versteinert am Ende zu völliger Fühllosigkeit. Mag der Körper auch weiterhin essen und trinken und sein Vergnügen genießen, die Seele, die er beherbergt, wird wie die Seele des Branca d’Oria bei Dante in Stein verkehrt.27 Mein Brief scheint keinen Augenblick zu früh gekommen zu sein. Er traf Dich, soweit ich das beurteilen kann, wie ein Blitzschlag. In Deiner Antwort an Robbie nennst Du Dich »aller Kraft des Denkens und Formulierens beraubt«. ja, offenbar, denn es fällt Dir nichts Besseres ein, als einen Klagebrief an Deine Mutter zu schreiben. Und sie natürlich, blind wie immer für Dein wahres Wohl, eine Blindheit, die ihr und Dir zum bösen Schicksal wurde, tröstet Dich, so gut sie es vermag, und macht Dir Deinen früheren unglücklichen, unwürdigen Zustand wieder schmackhaft; was dagegen mich anlangt, so ließ sie meine Freunde wissen, sie sei »höchst betroffen« ob meiner schonungslosen Äußerungen über Dich. ja, sie teilt ihre Betroffenheit nicht nur meinen Freunden mit, sondern auch solchen Leuten – weit größer an der Zahl, wie ich Dir kaum zu sagen brauche -, die nicht meine Freunde sind: und ich erfahre jetzt über Leute, die Dir und den Deinen durchaus wohlwollen, dass mir durch dieses Vorgehen viel von der Sympathie, die auf Grund meiner hervorragenden Gaben und meiner schrecklichen Leiden langsam, aber stetig für mich aufkam, für immer verloren ging. Es heißt: »Ah! Zuerst hat er versucht, den guten Vater ins Gefängnis zu bringen, das schlug fehl: jetzt hält er sich an seinen unschuldigen Sohn und lässt ihn seinen Fehlschlag entgelten. Wie recht wir hatten, ihn zu verabscheuen! Wie sehr verdient er unsere Verachtung!« Wenn mein Name in Gegenwart Deiner Mutter erwähnt wird und sie schon kein Wort des Kummers oder Bedauerns über ihren – gar nicht so kleinen – Anteil am Ruin meines Hauses findet, dann sollte sie wenigstens soviel Anstand haben, zu schweigen. Und Du – meinst Du jetzt nicht auch, dass Du, statt Dich bei ihr zu beklagen, in jeder Hinsicht besser daran getan hättest, mir direkt zu schreiben und den Mut aufzubringen, mir zu sagen, was Du sagen musstest oder glaubtest, sagen zu müssen? Es ist fast ein Jahr her, dass ich diesen Brief schrieb Du kannst nicht während dieser ganzen Zeit »aller Kraft des Denkens und Formulierens beraubt« gewesen sein. Warum hast Du mir nicht geschrieben? Du sahst an meinem Brief, wie tief Dein Verhalten mich verletzt und gekränkt hatte. Mehr noch: Deine ganze Freundschaft mit mir war Dir endlich im rechten Licht gezeigt worden, und zwar in nicht misszuverstehender Weise. Oft hatte ich Dir in vergangenen Tagen gesagt, Du ruiniertest mein Leben. Du hast immer gelacht. Als ganz zu Beginn unserer Freundschaft Edwin Levy mit ansah, wie Du mich vorschobst, damit ich für alle Folgen, Widrigkeiten, ja selbst für die Kosten Deines Oxforder, sagen wir: Missgeschicks, einstehen sollte – er war in dieser Sache um Rat und Beistand zugezogen worden -, da redete er eine volle Stunde lang auf mich ein, um mich vor dem Umgang mit Dir zu warnen; ich berichtete Dir in Bracknell von meinem langen und eindringlichen Gespräch mit ihm, und Du lachtest. Als ich Dir erzählte, wie selbst der unglückliche junge Mensch, der am Ende neben mir auf der Anklagebank saß, mir mehr als einmal prophezeite, Du würdest mich weit sicherer und gründlicher ruinieren als irgendeiner der Durchschnittsjungen, mit denen ich mich törichterweise abgegeben hatte, lachtest Du, wenn auch nicht ganz so belustigt. Als meine klügeren oder weniger gutmütigen Freunde mich entweder warnten oder wegen meiner Bekanntschaft mit Dir verließen, lachtest Du verächtlich. Du lachtest unbändig, als Dein Vater Dir den ersten von Beleidigungen gegen mich strotzenden Brief schrieb und ich zu Dir sagte, ich wisse, dass ich bei Eurem abscheulichen Zwist bloß den Prügelknaben abgeben sollte und zwischen Euch zu Schaden kommen würde. Doch alles und jedes kam genauso, wie ich sagte, dass es kommen werde – wie das Ergebnis zeigt. Es gibt keine Entschuldigung dafür, dass Du nicht gesehen hast, wie die Dinge sich entwickelt hatten. Warum hast Du mir nicht geschrieben? Aus Feigheit? Aus Dumpfsinn? Aus welchem Grunde? dass ich über Dich empört war und dieser Empörung Ausdruck verliehen hatte, wäre erst recht ein Grund zum Schreiben gewesen. Wenn Du meinen Brief für ungerecht ansahst, hättest Du schreiben müssen. Wenn Du ihn auch nur im kleinsten Punkt für ungerecht hieltest, hättest Du schreiben müssen. Ich wartete auf einen Brief. Wenn schon alte Zuneigung, vielbeschworene Liebe, die tausend Taten schlechtvergoltener Freundschaft, mit denen ich Dich überschüttete, die tausend unbezahlten Dankesschulden – wenn schon das alles Dir nichts bedeuten sollte, so war ich doch überzeugt, dass schieres Pflichtgefühl, das dürftigste aller Bande von Mensch zu Mensch, Dich zum Schreiben veranlassen würde. Du kannst nicht behaupten, dass Du allen Ernstes geglaubt habest, ich dürfe ausschließlich geschäftliche Mitteilungen von Seiten meiner Angehörigen empfangen. Du wusstest genau, dass Robbie mir alle zwölf Wochen eine kleine Zusammenstellung der literarischen Neuigkeiten schrieb. Es gibt nichts Reizenderes als seine Briefe in ihrem Witz, ihrer klug gefassten Kritik, ihrem leichten Ton: sie sind wirkliche Briefe: sie sind wie Gespräche: sie besitzen die Qualität einer französischen causerie intime: und in seiner diskreten Ehrerbietung, in der Art, wie er bald an meine Urteilsfähigkeit appelliert, bald an meinen Humor, bald an meinen Instinkt für Schönheit oder an meine Bildung, mich auf hunderterlei Weise zart daran erinnert, dass ich einst vielen als Autorität in künstlerischen Stilfragen galt, manchen sogar als oberste Autorität, zeigt er, dass er den Takt der Liebe und literarisches Taktgefühl besitzt. Seine Briefe sind die kleinen Boten zwischen mir und der schönen, unwirklichen Welt der Kunst, in der ich einst König war und auch König geblieben wäre, wenn ich mich nicht in die armselige Welt grober, unvollkommener Leidenschaft, wahlloser Gier, unmäßiger und gemeiner Lüste hätte locken lassen. Bleibt noch zu sagen: Du hättest verstehen oder Dir zumindest sagen müssen, dass es für mich allein schon aus Gründen rein psychologischer Neugier interessanter gewesen wäre, von Dir zu hören, als zu erfahren, dass Alfred Austin einen Gedichtband veröffentlichen wolle, oder dass Street Theaterkritiken im Daily Chronicle schreibe, oder dass jemand, der keine Laudatio aufsagen kann, ohne steckenzubleiben, Mrs. Meynell zur neuen Sibylle der Stilistik erklärte.

Ach! wärst Du im Gefängnis gewesen – ich will nicht sagen, durch meine Schuld, denn ich hätte diesen Gedanken niemals ertragen, sondern durch eigenes Verschulden, durch eigene Irrung, durch Deinen Glauben an einen unwürdigen Freund, einen Fehltritt im Sumpf der Sinne, schlecht verschenktes Vertrauen, irregeleitete Liebe oder aus keinem von diesen Gründen oder aus allen zusammen – glaubst Du, ich hätte zugelassen, dass Du Dich in Dunkel und Einsamkeit verzehrtest, ohne auch nur im geringsten zu versuchen, Dir die bittere Bürde Deiner Schmach tragen zu helfen? Glaubst Du nicht, ich hätte Dich wissen lassen, wenn Du littest, so litte ich mit Dir? Wenn Du weintest, so flössen auch meine Tränen? Und wenn Du hinter Gefängnismauern lägst, verachtet von den Menschen, so hätte auch ich aus meinem Schmerz eine Mauer um mich gezogen, hinter der ich wellen würde, bis Du wiederkämst, und hinter der alle Güter, die die Menschen Dir vorenthielten, für Deine Heilung mit hundertfachem Zins verwahrt lägen. Wenn die bittere Notwendigkeit, oder was ich als noch bitterer empfinde, die Vorsicht, mir verwehrt hätte, Dir zu nahen, mich Deiner Gegenwart beraubt hätte, die mir selbst durch Kerkerstäbe und im Gewand der Schande noch zur Freude gereichte, so hätte ich zur gegebenen und nicht gegebenen Zeit an Dich geschrieben in der Hoffnung, dass eine bloße Wendung, ein einziges Wort, ein gebrochenes Echo der Liebe Dich erreichen möge. Hättest Du meine Briefe zurückgewiesen, ich hätte dennoch weitergeschrieben, damit Du zumindest wüsstest, dass immer ein Brief auf Dich wartete. Viele haben so an mir gehandelt. Sie schreiben mir alle drei Monate oder stellen Anträge, mir schreiben zu dürfen. Ihre Briefe und Mitteilungen werden verwahrt. Man wird sie mir bei meiner Entlassung aushändigen. Ich weiß, dass sie da sind. Ich kenne die Namen der Leute, die sie geschrieben haben. Ich weiß, dass sie voller Mitgefühl und Liebe und Güte sind. Das genügt mir. Mehr brauche ich nicht zu wissen. Dein Schweigen war entsetzlich. Dein Schweigen währte nicht nur Wochen und Monate, sondern Jahre; Jahre, die sogar für jene zählen, die wie Du eilends im Glück dahinleben und kaum die goldenen Füße der Tage im Vorübertanzen erhaschen können und atemlos hinter dem Vergnügen herlagen. Für dieses Schweigen gibt es keine Ausflucht; es ist ein Schweigen ohne mildernde Umstände. Ich wusste, dass Du tönerne Füße hast. Wer wusste es besser als ich? Als ich in einem meiner Aphorismen schrieb, erst die tönernen Füße machen das Gold der Bildsäule so kostbar28, dachte ich natürlich an Dich. Aber Du hast aus Dir kein goldenes Bild mit tönernen Füßen gemacht. Aus dem Staub der ausgetretenen Straßen, den die Hufe des Hornviehs zu Kot zerstampfen, hast Du für meine Blicke Dein Ebenbild geformt, und wonach immer ich mich heimlich gesehnt haben mag, jetzt wäre es mir Unmöglich, etwas anderes als Verachtung und Hohn für Dich zu empfinden, etwas anderes als Verachtung und Hohn auch für mich selbst. Und die besonderen Umstände, die meinen Fall begleiteten oder ihm folgten, machten – abgesehen von allen anderen Gründen – Deine Gleichgültigkeit, Deine Weltschlauheit, Deinen Dumpfsinn, Deine Vorsicht, oder wie immer Du es nennen willst, noch bitterer für mich.

Andere Unglückliche, die im Kerker schmachten, werden wohl auch der Schönheit dieser Welt beraubt, doch sind sie dafür wenigstens auch ziemlich sicher vor den tödlichsten Schlingen, den tückischsten Pfeilen dieser Welt. Sie können ins Dunkel ihrer Zellen tauchen und aus ihrer Schande eine Freistatt machen. Die Welt hat erreicht, was sie wollte, und nimmt weiter ihren Lauf, man überlässt die Opfer ungestört ihren Leiden. Nicht so bei mir. Ein Leid nach dem anderen hat auf seiner Suche nach mir ans Gefängnistor gepocht. jedem hat man alle Türen weit geöffnet und es eingelassen. Meine Freunde durften mich selten oder gar nicht besuchen. Doch meine Feinde haben immer Zutritt zu mir. Zweimal bei meinem öffentlichen Erscheinen vor dem Konkursgericht, und wiederum zweimal, als ich öffentlich von einem Zuchthaus in ein anderes gebracht wurde, hat man mich unter unsagbar erniedrigenden Umständen dem Geglotze und Gespött der Menge ausgesetzt. Der Todesbote brachte mir seine Kunde und zog weiter, und ich musste in völliger Einsamkeit, abgeschieden von allem, was mich hätte trösten oder mir Linderung hätte bringen können, die unmenschliche Bürde des Elends und der Reue tragen, die der Gedanke an meine Mutter mir auferlegte und noch immer auferlegt. Kaum hat die Zeit diese Wunde fühllos gemacht – nicht geheilt -, da schickt meine Frau mir durch ihren Anwalt heftige, bittere und schroffe Briefe. Man droht mir mit der Armut und wirft sie mir zugleich vor. Das kann ich ertragen. Ich kann mich in Schlimmeres fügen. Doch man nimmt mir meine beiden Kinder durch Gerichtsbeschluß.29 Das ist und bleibt für mich eine Quelle unendlicher Betrübnis, unendlichen Schmerzes, unendlichen, grenzenlosen Grams. dass das Gesetz bestimmen kann, sich anmaßen kann, zu bestimmen, dass ich für meine eigenen Kinder kein Umgang sei, das ist für mich fürchterlich. Die Schande des Kerkers ist nichts dagegen. Ich beneide die anderen Männer, die mit mir im Hofe ihre Runden traben. Gewiss warten ihre Kinder auf sie, freuen sich auf ihr Kommen, werden lieb zu ihnen sein.

Die Armen sind klüger, barmherziger, freundlicher, gefühlvoller als wir. In ihren Augen ist das Gefängnis ein tragischer Unfall im Leben eines Menschen, ein Unglück, ein Missgeschick, etwas, womit man Mitleid haben muss. Wenn jemand im Gefängnis ist, sagen sie, er sei »in Schwierigkeiten«, habe »Pech gehabt«. Diesen Ausdruck gebrauchen sie immer, er spricht von der höchsten Weisheit der Liebe. Bei Leuten unseres Standes ist das anders. Aus uns macht das Gefängnis Parias. Ich und meinesgleichen haben kaum noch ein Recht auf Luft und Sonne. Unsere Gegenwart verdirbt den anderen jedes Vergnügen. Wenn wir herauskommen, heißt niemand uns willkommen. Wir dürfen nicht aufs neu’ des Mondes Dämmerschein besuchen.30 Die eigenen Kinder nimmt man uns weg. Diese holden Bande zur Menschheit werden zerrissen. Wir sind dazu verdammt, einsam zu bleiben, während unsere Söhne noch am Leben sind. Man verwehrt uns das einzige, was uns hellen und helfen könnte und Balsam bringen unseren wunden Herzen und Frieden der gequälten Seele.

Und zu alldem kam noch erschwerend der geringfügige Umstand hinzu, dass Du mir durch Dein Handeln und Dein Schweigen, durch alles, was Du tatest und unterließest, jeden Tag meiner langen Gefangenschaft noch unerträglicher gemacht hast. Selbst die Gefängniskost aus Brot und Wasser hast Du durch Dein Verhalten entstellt. Vergällt das eine, schal gemacht das andere. Das Leid, das Du hättest teilen sollen, hast Du verdoppelt, den Schmerz zur Qual vertieft, statt ihn zu lindern gesucht. Ich zweifle nicht daran, dass Du es nicht mit Absicht tatest. Ich weiß, es war nicht Deine Absicht. Es war einfach Dein »einzig wirklicher Charakterfehler, Deine völlige Phantasielosigkeit«31.

Und das alles endet damit, dass ich Dir vergeben muss. Ich muss es tun. Ich schreibe diesen Brief nicht, um Bitternis in Dein Herz zu senken, sondern um sie aus dem meinen zu reißen. Um meiner selbst willen muss ich Dir vergeben. Man kann nicht ständig eine Natter am Busen nähren, nicht allnächtlich aufstehen, um Dornen im Garten der eigenen Seele zu säen. Es wird nicht schwer für mich sein, wenn Du mir ein wenig hilfst. Ich habe Dir immer gern alles verziehen, was Du mir in den vergangenen Tagen antatest. Es hat Dir damals nicht zum Guten gereicht. Nur ein Mensch, dessen eigenes Leben fleckenlos ist, darf Sünden vergeben. Doch jetzt, da ich in Erniedrigung und Schande schmachte, ist alles anders. jetzt sollte meine Vergebung Dir viel bedeuten. Eines Tages wirst Du es begreifen. Ob das früh oder spät sein wird, bald oder gar nicht, mein Weg liegt klar vor mir. Ich kann nicht zulassen, dass Du Dein ganzes Leben lang die Bürde im Herzen trägst, einen Mann wie mich vernichtet zu haben. Der Gedanke könnte Dich bis zur Fühllosigkeit abstumpfen oder zu Tode traurig machen. Ich muss die Bürde von Dir nehmen, und sie mir selbst auf die Schulter laden.

Ich muss mir sagen, dass weder Du noch Dein Vater, und wenn man Euch vertausendfachte, einen Mann wie mich hättet zugrunde richten können: dass ich mich selbst zugrunde richtete: und dass niemand, ob hoch oder niedrig, von anderer Hand als von seiner eigenen zugrunde gerichtet werden kann. Ich bin bereit, mir das zu sagen. Ich versuche es, wenn Du es auch im gegenwärtigen Augenblick vielleicht nicht glaubst. Wenn ich diese schonungslose Anklage gegen Dich vorgebracht habe, so bedenke, welche Anklage ich ohne jede Schonung gegen mich selbst vorbringe. So schrecklich das war, was Du mir antatest – was ich selbst mir antat, war weitaus schrecklicher.

Ich war ein Mann, der Kunst und Kultur seiner Zeit symbolisierte. Ich selbst hatte das schon an der Schwelle meines Mannesalters erkannt, und später zwang ich die ganze Welt, es zu erkennen. Selten nimmt ein Mensch zu Lebzeiten einen so unbestrittenen Rang ein. Er wird zumeist erst, wenn Überhaupt, vom Historiker oder vom Kritiker zugewiesen, lange nachdem dieser Mensch und seine Zeit dahingegangen sind. Mein Fall lag anders. Ich fühlte das und teilte dieses Gefühl anderen mit. Byron war eine symbolische Figur, doch er symbolisierte die Leidenschaft seiner Zeit und ihre Abkehr von der Leidenschaft. Ich vertrat etwas Edleres, Bleibenderes, das tiefer wurzelte und weiter reichte.

Die Götter hatten mir beinahe alles gegeben. Ich besaß Genie, einen angesehenen Namen, eine Stellung in der Gesellschaft, Witz, intellektuellen Mut: ich machte aus der Kunst eine Philosophie und aus der Philosophie eine Kunst. ich änderte das Denken der Menschen und die Farbe der Dinge: was immer ich tat oder sagte, wirkte erstaunlich: ich nahm das Drama, die objektivste Kunstform, und schuf daraus eine ebenso subjektive Ausdrucksform wie Lied oder Sonett, während ich zugleich seinen Geltungsbereich erweiterte und seine Möglichkeiten vervielfachte. Drama, Roman, Versdichtung, Prosadichtung, subtiler oder phantastischer Essay, was immer ich anfasste, wurde durch mich schön in einer neuen Art Schönheit: der Wahrheit selbst wies ich das Falsche und das Wahre als ihr legitimes Reich zu und zeigte auf, dass das Falsche wie das Wahre lediglich geistige Seins-Formen sind. In der Kunst sah ich die höchste Form der Realität, im Leben nur eine Spielart des Romans: ich weckte die Phantasie meines Jahrhunderts, und es umwob mich mit Mythen und Legenden: alle Systeme fasste ich in einen Satz, die ganze Existenz in ein Epigramm.

Doch zu diesen Dingen kamen andere. Ich ließ mich in lange Perioden sinnlosen, sinnlichen Behagens locken. Ich amüsierte mich damit, als flâneuraufzutreten, als Dandy, als Modeheld. Ich umgab mich mit dürftigeren Naturen, geringeren Geistern. Ich wurde zum Verschleuderer meines eigenen Genies; eine ewige Jugend zu vergeuden, bereitete mir ein prickelndes Vergnügen. Müde, auf den Höhen zu wandeln, stieg ich absichtlich in die Tiefe und suchte dort neue Reize. Was das Paradoxe mir im Bereich des Denkens war, wurde mir im Reich der Leidenschaften die Perversion. Am Ende war die Begierde zu Krankheit oder Wahnsinn oder zu beidem geworden. Ich nahm keine Rücksicht mehr auf andere. Ich nahm die Freuden, wo sie sich mir boten, und ging meines Wegs. Ich vergaß, dass jede kleine Alltagshandlung den Charakter formt oder verformt und dass man daher eines Tages laut vom Dache ausschreit, was man bislang im verschwiegenen Zimmer tat. Ich war nicht mehr Herr über mich selbst. Ich war nicht mehr Steuermann meiner Seele, und ich wusste es nicht. Ich ließ mich von Dir beherrschen und von Deinem Vater einschüchtern. Ich endete in grauenvoller Schmach. Mir bleibt nur noch eines, äußerste Demut: genau wie Dir nur noch eines bleibt, äußerste Demut. Wirf Dich in den Staub und lerne sie an meiner Seite.

Seit beinahe zwei Jahren liege ich nun im Kerker. Mein Wesen machte sich Luft in wilder Verzweiflung; in der Hingabe an den Gram, dessen Anblick allein Mitleid erregte: in schrecklicher und ohnmächtiger Wut: in Bitterkeit und Verachtung: in Angst, die laut weinte: in Elend, das keinen Laut finden konnte: in stummem Leid. jede erdenkliche Phase des Leidens habe ich durchlebt. Besser als Wordsworth selbst weiß ich, was Wordsworths Verse besagen:

Das Leiden ist beständig, trüb und finster
Und hat das Wesen der Unendlichkeit.32

Zuzeiten labte mich sogar der Gedanke, dass meine Leiden endlos sein mochten, doch dass sie bedeutungslos sein sollten, konnte ich nicht ertragen. jetzt entdecke ich auf dem verborgenen Grund meines Wesens etwas, das mir sagt, nichts in der Welt sei bedeutungslos, am wenigsten das Leiden. Dieses Etwas, das wie ein Schatz auf dem Grunde meines Wesens verborgen liegt, ist die Demut.

Sie ist das Letzte, was noch in mir lebt, und das Beste: die endliche Entdeckung, bei der ich angelangt bin: der Ausgangspunkt für eine neue Entwicklung. Sie ist aus mir selbst gekommen, daher weiß ich, dass sie zur rechten Zeit kam. Sie hätte nicht früher kommen können und nicht später. Hätte mir jemand davon gesprochen, ich hätte abgewehrt. Hätte man sie mir gebracht, ich hätte sie zurückgewiesen. Da ich selbst sie fand, will ich sie behalten. Ich muss sie behalten. Sie ist das einzige, was das Element des Lebens in sich trägt, eines neuen Lebens, meiner Vita Nuova. Sie ist das seltsamste aller Dinge. Man kann sie nicht wegschenken, niemand kann sie einem geben. Man kann sie nicht erwerben, wenn man nicht alles hingibt, was man besitzt. Erst wenn man alles andere verloren hat, dann weiß man, dass man sie besitzt.

Jetzt, da ich weiß, dass sie in mir wohnt, sehe ich ganz klar, was ich zu tun habe, unbedingt tun muss. Und wenn ich mich so ausdrücke, brauche ich Dir nicht zu sagen, dass ich nicht von äußerem Zwang oder Gebot spreche. Ich unterwerfe mich keinem von beiden. Mehr denn Je bin ich Individualist. Mir erscheint alles wertlos, was nicht aus dem eigenen Innern kommt. Mein Wesen sucht eine neue Möglichkeit der Selbstverwirklichung. Das ist mein einziges Bestreben. Und daher muss ich mich vor allem anderen von aller etwaigen Bitterkeit gegen Dich freimachen.

Ich bin völlig mittellos, ich habe kein Zuhause mehr. Und doch gibt es auf der Welt Schlimmeres als das. Ich meine es ernst, wenn ich Dir sage, lieber gehe ich von Tür zu Tür und erbettle mein Brot, als dass ich dieses Gefängnis mit einem Herzen voll Groll gegen Dich und die Welt verlasse. Wenn ich im Hause der Reichen nichts bekäme, so würden doch die Armen mir eine Gabe reichen. Wer viel besitzt, ist oft geizig. Wer wenig hat, teilt immer. Warum sollte ich nicht im Sommer auf dem kühlen Rasen schlafen und im Winter in den warmen, strohdichten Schober schlüpfen oder unters Dach einer großen Scheune, wenn ich nur Liebe im Herzen hätte? Die Äußerlichkeiten des Lebens scheinen mir Jetzt bedeutungslos. Du siehst, welchen Grad von Individualismus ich erreicht habe, oder vielmehr anstrebe, denn der Weg ist weit, »und wo ich gehe, sind Dornen«33.

Natürlich weiß ich, dass es nicht mein Los sein wird, auf den Landstraßen zu betteln, und sollte ich je nachts im kühlen Gras liegen – dann nur, um Sonette an den Mond zu schreiben. Wenn ich das Gefängnis verlasse, wird Robbie jenseits des großen Eisentors auf mich warten, und er ist nicht nur das Symbol seiner eigenen Zuneigung zu mir, sondern auch das der Zuneigung vieler anderer. Ich glaube, ich werde auf jeden Fall für etwa anderthalb Jahre genug zum Leben haben, so dass ich, wenn ich auch vielleicht keine schönen Bücher schreiben werde, doch schöne Bücher lesen kann, und welche Freude könnte größer sein? Danach werde ich hoffentlich meine schöpferischen Kräfte wiedererlangen. Doch stünden die Dinge anders: hätte ich keinen Freund mehr in der Welt: stünde kein Haus mir mehr offen, und sei’s auch nur aus Mitleid; müsste ich Ränzel und Lumpenrock der bittersten Armut anlegen: solange ich frei bleibe von Rachsucht, Härte und Verachtung, könnte ich dem Leben ruhiger und zuversichtlicher ins Auge blicken, als wenn mein Leib in Purpur und feines Linnen gehüllt, die Seele darin jedoch krank wäre vor Hass. Und es wird mir wirklich nicht schwer fallen, Dir zu verzeihen. Doch damit es mir zur Freude wird, musst Du selbst spüren, dass Du meine Vergebung brauchst. Wenn Du sie wirklich ersehnst, wirst Du sie auch finden.

Ich brauche nicht zu sagen, dass meine Aufgabe damit nicht zu Ende ist. Sonst wäre sie vergleichsweise leicht. Mir steht Schwereres bevor. Ich habe weit steilere Hügel zu erklimmen, viel dunklere Täler zu durchwandern. Und ich muss das alles aus eigener Kraft bewältigen. Weder die Religion noch Moral oder Vernunft können mir dabei helfen.

Anmerkungen

  1. Dieser Brief wurde nicht wie geplant aus Reading abgeschickt, sondern von Wilde am Tage nach seiner Entlassung Robert Ross persönlich übergeben. Dieser ließ zwei Maschinenabschriften anfertigen; er schickte Douglas nicht – wie Wilde ihm aufgetragen hatte – das Originalmanuskript, sondern eine der Abschriften, deren Empfang Douglas immer bestritten hat.
  2. Wilde schrieb ursprünglich »war«.
  3. Wordsworth, »Sonnet written in London, September 1802«.
  4. Höchstwahrscheinlich »The Decay of Lying«.
  5. An Lord Alfred Douglas, Savoy Hotel, London (März 1893) Liebster aller Jungen, Dein Brief war köstlich wie roter und goldener Wein; aber ich bin traurig und verstimmt. Bosie, Du darfst mir keine Szenen machen. Sie töten mich, sie zerstören den Reiz des Lebens. Ich kann Dich, attische Anmut, nicht von Leidenschaft entstellt sehen. Ich kann nicht den schön geschwungenen Lippen lauschen, wenn sie hässliche Dinge sagen … Ich muss Dich bald sehen, Du bist das Göttliche, das ich brauche, die Anmut und Schönheit selber; Warum bist Du nicht hier, mein lieber, mein wunderbarer Junge?
  6. A Woman of No Importance, III. Akt.
  7. Agamemnon. Die zitierten Stellen finden sich in den Zeilen 717~728.
  8. König Lear, v. Akt, 3. Szene.
  9. Lord Alfred Douglas’ Gedicht »Two Loves« [Zwei Lieben] erschien in der Zeitschrift Chameleon und wurde vor Gericht verlesen. Die letzten Zeilen lauten: Ach bin wahre Liebe, ich fülle/Die Herzen der jungen und Mädchen mit gegenseitiger Flamme.-/Dann sagte seufzend die andere: »Wie du willst,/Ich bin die Liebe, die ihren Namen nicht zu nennen wagt.«
  10. Auf diese Summe (genauer gesagt auf £ 677) wurden Queensberrys Kosten in Wildes erfolglosem Prozess gegen ihn geschätzt. Die Gesamtsumme von Wildes Schulden betrug E 6ooo, Queensberry aber war derjenige Gläubiger, auf dessen Antrag hin das Konkursverfahren gegen Wilde eröffnet wurde.
  11. I893warQueensberrysältesterSohn,Drumlanrig,damalsPrivatsekretär von Lord Rosebery (der zu jener Zeit Außenminister im letzten Kabinett Gladstones war), zum Baron Kelhead in der Adelsliste des Vereinigten Königreichs ernannt worden. (Queensberrys sämtliche Titel waren schottische Adelstitel.) Queensberry war damit einverstanden und bedankte sich brieflich bei Gladstone. Noch vor Ablauf eines Monats jedoch schrieb er beleidigende Briefe an die Königin, an Gladstone, an Rosebery und an seinen Sohn. Als Rosebery sich in Bad Homburg aufhielt, reiste er ihm nach, drohte ihm mit der Reitpeitsche und konnte erst durch den Prinzen von Wales zur Besinnung gebracht werden.
  12. Das Telegramm (mit Datum vom 2. Apr. 1894) lautete: »Was bist Du doch für ein drolliges Männchen«.
  13. Vgl. Anm. 12.
  14. Frederick Atkins war unter anderem Kellner in einem Billard-Lokal und Gehilfe eines Buchmachers. Als er bei Wildes erstem Prozess als Zeuge der Anklage auftrat, erwies seine Aussage sich als so flagrant erlogen, dass der Richter ihn in seinem Schlusswort als »einen höchst verantwortungslosen, unzuverlässigen, skrupellosen und unwahrhaftigen Zeugen« bezeichnete. Wilde, der zugab, Atkins einmal nach Paris mitgenommen zu haben, wurde in den Punkten der Anklage, die sich auf diesen Zeugen bezogen, freigesprochen.
  15. 1. Buch der Könige, 22, 34.
  16. Vgl. Othello, II. Akt, i. Szene.
  17. Fleur-de-Lys und Jonquil waren zwei Spitznamen Wildes für Lord Alfred Douglas, der eine Ballade geschrieben hatte mit dem Titel »Jonquil and Fleur-de-Lys«, über einen Königssohn und einen Hirtenjungen, die ihre Kleider tauschen.
  18. Die Schlusszeilen der Oktave von Wildes Sonett »On The Sale by Auction of Keats’ Love Letters«.
  19. Cesare Lombroso (1836-1909), italienischer Kriminologe.
  20. Am 3.Juni 1895 veröffentlichte Henri Bauër in der Zeitung L’ Écho de Paris einen flammenden Artikel, worin er gegen das barbarische Urteil protestierte, das man über Wilde gefällt hatte, gegen den Unfug, Homosexuelle zu bestrafen, und gegen die Scheinheiligkeit der Engländer. Queensberry nannte er den »Inbegriff des unheilstiftenden sportlichen Rohlings, einen schlechten Gatten und bösartigen Vater«, der typisch sei für England und seine berüchtigte »Prüderie«.
  21. Donatien-Alphonse-François Marquis de Sade (1740-1814), Autor von Justine (1791) und anderer Romane; er war wegen verschiedener Verbrechen zum Tode verurteilt, konnte jedoch dem Schafott entrinnen und starb in einer Irrenanstalt. The History of Sandford and Merton, ein erbauliches und außerordentlich populäres Kinderbuch von Thomas Day (1748-89).
  22. Siehe Anm. 5.
  23. Siehe Anm. 5.
  24. Siehe Anm. 12.
  25. »Nichts mehr von ihnen, sieh’ und geh vorüber.« (Dante, Göttliche Komödie, Inferno III, 51).
  26. Bezieht sich vielleicht auf das Goldblatt-Elektroskop, das 1787 erfunden worden war, womit man das Vorhandensein einer statischen elektrischen Ladung feststellen konnte.
  27. Dante, Göttliche Komödie, Inferno XXXIII, 135-147.
  28. The Picture of Dorian Gray, Kap. 15.
  29. Constance Wildes Klage war am 12. Februar 1897 vor dem Vormundschaftsgericht verhandelt worden. Das Gericht sprach Wildes Frau die Sorge für ihre Kinder zu und bestellte sie selbst und Adrian Hope zu deren Vormündern.
  30. Hamlet, I. Akt, 4. Szene.
  31. Siehe Anm. 12.
  32. Leicht verändert aus: Wordsworth, The Borderers, III. Akt.
  33. A Woman of No Importance, IV. Akt.

龙二 宝贝

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